Evangelische Kirchengemeinde Kenzingen

Ewigkeitssonntag, Letzter Sonntag im Kirchenjahr, Markus 13, 31-37
Kantorei, Motette von J.S. Bach, Jesu meine Freude

Begrüßung:

Liebe Gemeinde! Dieser letzte Sonntag im Kirchenjahr trägt den Namen Toten- oder Ewigkeitssonntag. Wir gedenken der Verstorbenen des vergangenen Kirchenjahres. Doch, wenn es stimmt, dass der Tod "der Ernstfall des Glaubens" ist, wie gelingt es uns modernen Menschen, vom Totensonntag zum Ewigkeitssonntag zu kommen, von der Erinnerung an den Tod, Abschiednehmen, Leid und Trauer hinüber zu Gedanken der Hoffnung, die auch vor einem Grab nicht halt machen? Schenke uns Gott, dass wir wach werden für den Ernstfall des Glaubens, den Tod, damit wir dankbar, bewusst und klug unser einmaliges Leben leben.

Ich bin ganz sicher, dass nichts uns von der Liebe Gottes trennen kann: weder Tod noch Leben, weder Engel noch Dämonen, noch andere gottfeindliche Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Himmel noch Hölle. Nichts in der ganzen Welt kann uns jemals trennen von der Liebe Gottes, die uns verbürgt ist in Jesus Christus, unserem Herrn (Röm 8,38-39).

Gebet:

Herr, guter Gott! Da sind wir an diesem denkwürdigen Abend, um unseren Erinnerungen Raum zu geben, den Verstorbenen einen Namen, uns unserer Traurigkeit noch einmal stellen zu dürfen, wofür es in unserem Alltag keine Zeit, kein Mitleid mehr gibt. Gott, wie schnell verdrängen wir den Tod aus unserem Bewusstsein in den Herausforderungen unseres Lebens, wie schnell haben wir auch dich vergessen. Unsere Eigeninteressen bestimmen unser Leben, alles andere tritt zurück, es hat keinen Platz darin. Hilf uns, dass es nicht dabei bleibt, sondern dass wir dich durch dein Wort so erfahren, dass wir für unser Leben gestärkt und auf unseren Tod gut vorbereitet leben. Herr, öffne du selbst uns für dein Wort und deinen guten Geist, durch Jesus Christus.
Amen.

Text

"Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte vergehen nicht; sie bleiben gültig für immer und ewig. Doch den Tag oder die Stunde, wann das Ende da ist, kennt niemand, auch nicht die Engel im Himmel - nicht einmal der Sohn. Nur der Vater kennt sie. Seht zu, dass ihr wach bleibt! Denn ihr wisst nicht, wann der Zeitpunkt da ist. Es ist wie bei einem Mann, der verreist. Er verlässt sein Haus und überträgt seinen Dienern die Verantwortung. Jedem weist er seine Aufgabe zu, und dem Türhüter befiehlt er, wachsam zu sein. So sollt auch ihr wach bleiben, weil ihr nicht wisst, wann der Hausherr kommen wird: am Abend, um Mitternacht, beim ersten Hahnenschrei oder wenn die Sonne aufgeht. Wenn er kommt, soll er euch nicht im Schlaf überraschen! Was ich euch vier Jüngern hier sage, das gilt für alle: Bleibt wach!"

Markus 13, 31-37


Liebe Gemeinde!

Viele von Ihnen waren schon einmal im Pfarrhaus in meinem Arbeitszimmer. Wir führten das eine oder andere Gespräch - fröhlich oder ernst, anlässlich einer bevorstehenden Trauung, zur Geburt eines Kindes oder zum Abschied von einem Menschen, der zu Ihrem Leben dazu gehörte. Es wurde miteinander geredet, zugehört, Sorgen oder Freuden geteilt. Vermutlich fiel dabei aber wohl kaum jemandem dieses Kreuz auf, das seit meiner Studienzeit zwischen meinen Büchern hängt. Es ist ein altes Grabkreuz von einem ausländischen Soldatenfriedhof. Oben sieht man das unselige Hakenkreuz, unter dem so unendlich viel Leid und Elend in die Welt kam und worunter dann, Platz und Material sparend, auf jeder Seite ein junger Soldat beerdigt wurde. Unter einem Kreuz: zwei Soldaten, namenlos, denn der eine Name ist nicht mehr zu entziffern und der andere wird als "unbekannter Matrose" bezeichnet.

Ein altes Kreuz von einem Kriegsgräberfriedhof, das mein Leben nachdenklich begleitet, denn eigentlich sollte es verbrannt werden, was mir damals unangemessen erschien. So hängt es nun bei mir im Pfarrhaus als Warnung, als Mahnung, doch eben auch als ein Kreuz, das mich über Golgatha hinaus jeden Tag neu an die Kreuze dieser Welt erinnert. Wie besser könnte das geschehen, als gerade mit einem solch ausdrucksvollen Kreuz, das weit davon entfernt ist, ein unreflektiertes Schmuckstück zu sein.

Unser Text erinnert uns ja an diesem Totensonntag an die Passion Jesu, die Nacht, in der verraten wurde, die Bitte an seine Jünger um Wachsamkeit, und wieder wird es Nacht, als Jesus stirbt. Auch wir sind heute an das Leid in der Welt erinnert, bis in unser ganz persönliches Leben und das unserer Familien hinein. Wir denken am letzten Sonntag dieses vergehenden Kirchenjahres zurück und erinnern uns an Menschen, die unseren Lebensweg begleitet haben und verstarben. Wir denken an manches, was so unverständlich und unerklärbar dunkel blieb, an persönliche Sorgen und fassungsloses Leid. Wir denken an die Passionen, die Leidensgeschichten, die uns allen mit unserem Leben eben auch auferlegt werden, so gern wir das uns und anderen ersparen würden.

Wir sehen, dass dieses Kreuz angegriffen ist, es fehlt der untere Teil, der Fuß. Ist das nicht selbst ein Symbol für die Angefochtenheit, die Vergänglichkeit des Lebens und aller Dinge, bis in die Symbolsprache hinein?. Wie viele von uns mussten in diesem Jahr ihr Kreuz tragen, wie viele Menschen werden nach der Gerechtigkeit Gottes und nach dem "Warum" einer schweren Krankheit, des Todes gefragt haben? Das Kreuz, gerade dieses, weist uns darauf hin, dass nichts ewig bestehen bleiben wird. "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?", diese Frage des gekreuzigten Jesus von Nazareth ist nach wie vor die auch für viele von uns unbegreifliche gültige Frage angesichts eines angefochtenen Lebens.

Vor wenigen Tagen las ich folgenden Bericht, der mich tief beeindruckte:

"Eli Wiesel, der jüdische Schriftsteller und Philosoph, hat 1986 in Loccum berichtet, wie er 1944 in Auschwitz erlebt hat, dass ein rabbinisches Tribunal einberufen wurde, um Gott anzuklagen, weil er so viel Elend seinem Volk zugefügt hatte. Eli Wiesel wies während des Erzählens darauf hin, dass es gefährlich sein könnte, diese Geschichte in Deutschland zu erzählen:
"Ich erzähle sie nicht, weil ich denke, dass dies die Verantwortlichkeit des Menschen verringern könnte; keineswegs. Es ist falsch, Auschwitz ausschließlich als theologisches Problem zu verstehen. Auschwitz wurde nicht von Gott verursacht; es wurde von Menschen veranstaltet gegen andere Menschen. Es ist zuerst und vor allem ein menschliches Problem, menschliche Verantwortlichkeit. Aber Gott herauszulassen ist auch unehrlich. Die Tragödie ist, dass wir uns keine Vorstellung von Auschwitz machen können mit Gott, aber auch nicht ohne Gott ...

Die Verhandlungen des Tribunals zogen sich lange hin. Und schließlich verkündete mein Lehrer, der Vorsitzender des Tribunals war, das Urteil: Schuldig. Und dann herrschte Schweigen - ein Schweigen, das an das Schweigen am Sinai erinnerte, ein endloses, ewiges Schweigen. Aber schließlich sagte mein Lehrer, der Rabbi: Und nun, meine Freunde, lasst uns gehen und beten. Und wir beteten zu Gott, der gerade wenige Minuten vorher von seinen Kindern für schuldig erklärt worden war." [1]

In dieser menschlichen Hölle wird Gott schuldig gesprochen für etwas, wofür Menschen die Verantwortung zu tragen haben, dann schweigen sie ein endloses, ewiges Schweigen. Man kann über seinem Leid mit Gott brechen, sich schweigend oder auflehnend abwenden, aufhören, nach ihm zu fragen, aber man kann sich ebenso auf den Weg machen und nun erst recht - trotzig und dennoch - Gott suchen, ihn in das eigene Leben hineindenken. Menschen können Gott anklagen, verurteilen und gerade so an ihm festhalten und in einer Gottesbeziehung bleiben. Hier könnte die Predigt und unser Nachdenken zu einem "Totensonntag" ein Ende haben, wir alle nach Hause gehen. Doch dieser Sonntag heißt ja ganz bewusst auch "Ewigkeitssonntag", allein von daher hören wir das Wort Jesu: "Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte vergehen nicht ..." Mitten in unserem Leben müssen wir Abschied nehmen, verlieren, leiden, trauern, aber dieses Wort Jesu eröffnet uns einen Blick, über die Gräber der Verstorbenen hinweg. Der Blick soll nicht mehr auf den Tod fixiert und gebannt sein, sondern darüber hinaus auf Gott. Das ist der Perspektivenwechsel vom Toten- zum Ewigkeitssonntag, vom Tod, der unser Leben begleitet, hinüber zu einem Vertrauen, das jenseits aller Gräber mit des Menschen Gott rechnet.

Kantorei, J.S.B. Jesu meine Freude, Strophe 3

Trotz dem alten Drachen, Trotz dem Todesrachen, Trotz der Furcht dazu! Tobe, Welt, und springe; ich steh hier und singe in gar sichrer Ruh. Gottes Macht hält mich in acht, Erd und Abgrund muss verstummen, ob sie noch so brummen.

Mit den gehörten Worten aus dem Markusevangelium nimmt Jesus Abschied von seinen Jüngern. Er kennt sie, er kennt den Menschen. Er weiß, wie müde wir oft durch die Herausforderungen unseres Lebens werden: müde an unserer Arbeit, die uns belastet, - müde, weil es in unserer Beziehung nicht so klappt, wie es ein sollte, - müde durch Sorgen um unsere Kinder, unser Alt- und Älterwerden, - müde, weil uns manches so vergeblich und ohne jeden Sinn vergänglich erscheint, - müde daher nun auch in unserem Glauben, der uns offensichtlich so hilflos und allein im Leben zurück lässt. Scheinbar schweigt Gott.

In diese Müdigkeit des Lebens hinein lädt Jesus seine Jünger und Hörer zur Wachsamkeit ein. Er verweist darauf, dass Gott gerade nicht schweigt, sondern, dass seine "Worte nicht vergehen, sie bleiben gültig für immer und ewig ..." Doch hören kann sie der Mensch eben nur, wenn er "wach" ist, bereit, sich ansprechen zu lassen. Wer schläft, kann nicht zuhören, der bleibt in seinem Schlaf bei sich selbst. Ebenso kann es uns aber auch ergehen, wenn wir hellwach, aber dennoch buchstäblich umnachtet sind, verschlossen für Worte und Gesten, für die Zuwendung anderer. Gerade die Trauer eines Menschen ist dafür ein Beispiel. Wer aus physischer und psychischer Ermattung oder Verzweiflung schläft, will nichts mehr vom Leben sehen und hören, er ist mitten im Leben dem Tod nah.

Wach sein oder wach werden im Sinne Jesu ist etwas unendlich Aktives, dem Leben Zugewendetes. Es bedeutet, über etwas zu "wachen" oder für etwas "Sorge" zu tragen 2), sich den Realitäten des Lebens stellen zu lernen, auch wenn sie einmal bedrückend erscheinen. Jesus appelliert geradezu an seine Jünger, sich dem Leben und all dem, was auf sie zukommen wird, zu stellen. Da hat der Schlaf jetzt keinen Platz.

"Es hat alles seine Zeit ...", heißt es einmal in der Bibel, so natürlich auch der Schlaf. Doch wo es um das Wort Gottes und den Glauben geht, da soll der Mensch hellhörig werden, gerade dann, wenn ihm der Weg vom Gedenken an Leid, Trauer und Tod im Leben an einem "Totensonntag" weiterführen, ja hinüberführen soll zum "Ewigkeitssonntag". Nicht der Tod bleibt in Ewigkeit, sondern Gott. Um das zu begreifen, müssen wir für das Wort Gottes "wach" werden. Und eben hierzu lädt Jesus seine Jünger und Freunde ein.

Passionen, Leidenschaften werden unser Leben begleiten. Eli Wiesel beschreibt es in einer unglaublichen Weise: "... Das Urteil: Schuldig. Und dann herrschte Schweigen, ..., ein endloses, ewiges Schweigen. Aber schließlich sagte mein Lehrer, ...: Und nun, meine Freunde, lasst uns gehen und beten. Und wir beteten zu Gott, der gerade wenige Minuten vorher von seinen Kindern für schuldig erklärt worden war."

Mitten in der Passion dieser Hölle von Auschwitz wird Leidenschaft spürbar, eine Leidenschaft für Gott. Doch auch das Kreuz Jesu zeigt uns, dass Gott selbst diese Leidenschaft zu seiner Schöpfung und seinem Geschöpf teilt. Er zieht sich nicht in seinen fernen, hohen Himmel zurück, dem schuldigen Menschen entfremdet, sondern er teilt sich diesem mit, mitten in der Tiefe des Lebens, an den Abgründen, angesichts offener Gräber und voller Friedhöfe.

Wenn aus diesem Totensonntag wirklich ein Ewigkeitssonntag für uns werden soll, dann dürfen wir hören und darauf vertrauen: "Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte vergehen nicht; sie bleiben gültig für immer und ewig ... Seid wachsam ..."
Amen.


Literatur:

  1. Hirschler, Horst, Wo war Gott am 11. September, Zeitzeichen 11/2001, S. 14ff
    2. Eberle, C., Deutsches Pfarrerblatt, Heft 10/2001,

    außerdem:

    Drewermann, E., Das Markusevangelium, Olten 19914, 397 ff

    Vagt, A., Calwer Predigthilfen, 2000/2001, Reihe V/2, Stuttgart 2001, S. 230f


Letzte Änderung: 06.12.2001
Pfr. Hanns-Heinrich Schneider