Evangelische Kirchengemeinde Kenzingen

11.02.2001, Septuagesimae (3. Sonntag vor der Passionszeit)

Jesus beruft Matthäus und isst mit den Zolleinnehmern

Jesus ging weiter und sah einen Zolleinnehmer an der Zollstelle sitzen. Er hieß Matthäus. Jesus sagte zu ihm: »Komm, folge mir!« Und Matthäus stand auf und folgte ihm. Als Jesus dann zu Hause zu Tisch saß, kamen viele Zolleinnehmer und andere, die einen ebenso schlechten Ruf hatten, um mit ihm und seinen Jüngern zu essen. Die Pharisäer sahen es und fragten die Jünger: »Wie kann euer Lehrer sich mit Zolleinnehmern und ähnlichem Volk an einen Tisch setzen?« Jesus hörte es und antwortete: »Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken! Überlegt doch einmal, was es bedeutet, wenn Gott sagt: `Ich fordere von euch nicht, dass ihr mir irgendwelche Opfer bringt, sondern dass ihr barmherzig seid.’ Ich bin nicht gekommen, solche Menschen in Gottes neue Welt einzuladen, bei denen alles in Ordnung ist, sondern solche, die Gott den Rücken gekehrt haben.«

Matthäus 9, 9 - 13

Begrüßung:

Liebe Gemeinde! Heute wollen wir am Beispiel der Berufungsgeschichte des Zolleintreibers Matthäus miteinander das Wunder der Begegnung und das der daraus folgenden Nachfolge bedenken. Wir sind gefragt, in was für einer Welt wir leben und welche Zukunft wir haben wollen und alle, mit denen wir unsere eine Welt teilen?

Gebet:

Lass uns teilen - Gott, das Schweigen und Reden, - das Ängstliche und Mutige, - das Gesunde und Kranke, - das Hungrige und Satte, - das Fröhliche und Traurige. Lass uns teilen - Gott, die Last und das Leichte. Lass uns teilen - Gott: Macht, Verantwortung, Leistung, Hoffnung, Lebenskraft, unsere Zeit. Lass uns teilen - Gott, das Leben, darum, weil du uns das Wunder der Begegnung geschenkt und uns in deine Nachfolge berufen hast. Weil keiner von uns allein perfekt sein kann, darum bitten wir: Herr, erbarme dich.

Guter Gott! Wir teilen die Menschen ein in solche, die viel, und solche, die wenig leisten, in solche, die mehr, und solche, die aus unserer Sicht weniger taugen. Durchkreuze unsere Einteilungen, und lass uns wieder einmal danach fragen, wer unsere Zuwendung braucht.

Wir berechnen, was wir an Verständnis oder Anerkennung verdient haben, wie oft wir uns im Vergleich zu anderen zu kurz gekommen fühlen. Mach einen Strich durch unsere Rechnung, und lass uns erkennen, was du für uns getan, wozu du uns ermutigt hast. Überwinde unsere Rangordnungen, und schenke uns den inneren Frieden, auch mit unseren Grenzen leben zu können, denn wir haben dein Wort gehört und wollen versuchen, aus deiner Nachfolge zu leben. Amen.


Liebe Gemeinde!

So, wie Jesus sein Wirken hier fortsetzt, können wir von einem weiteren Wunder sprechen, dem Wunder der Begegnung, der Offenheit über Grenzen hinweg. Seine Einladung an die Ausgegrenzten und Abgewiesenen ruft schärfsten Protest hervor. "Wie kann euer Lehrer sich mit denen dort an einen Tisch setzen, essen und trinken?" Warum muss er nur, ohne dazu gezwungen zu sein, die Nähe eines solchen Menschen suchen?

Genau gegen diese Verhaltensweise Jesu protestiert sogar noch der Protestant Friedrich Nietzsche im 19. Jahrhundert: "Religion", so sagt er, "dient der Narkotisierung bei allen Übeln, die sich anders nicht beseitigen lassen ... [1] Das Christentum mit seiner Moral von Nächstenliebe, Demut, Gehorsam bedeutet für Nietzsche insgesamt einen Sieg der Sklavenmoral ... [2] So kreidete er dem Christentum an, den Schlechtweggekommenen einen "absoluten Wert" gegeben zu haben, mit der Absicht, allem Leid und Übel einen "Sinn" zu geben, es damit erträglich zu machen ... [3]

Gehen die Gegner Jesu damals auch von anderen Voraussetzungen aus, so trifft man sich dennoch über die Zeit hinweg in der Ablehnung dieses Mannes. Wenn so die Maßstäbe außer Kraft gesetzt und "Religion zum Seufzer der bedrängten Kreatur wird", dann ist "Religion das Opium des Volkes ..." [4] Stört die einen, dass Jesus religiöse Grenzen verwischt, so die anderen, dass er den zu kurz Gekommenen in ihrem Leben, Lebenshilfe, Perspektive schenkt, sie zur Nachfolge und eben nicht zur Revolution aufruft. Aber schauen wir noch einmal genau in unseren Text, denn was ist eigentlich geschehen, und worin ereignet sich das angedeutete Wunder?

Jesus durchzieht das Land, er lehrt, predigt, lässt seine Freunde und Gegner teilhaben an unterschiedlichsten Wundern, die bei manchen seiner Zuhörer einen tiefen Glauben hervorrufen, bei anderen dagegen schärfste Ablehnung. Wieso sollte Gott gerade durch diesen Menschen etwas tun, was gegen die Natur ist. Letztendlich führt das nur dazu, dass die Ordnung hinterfragt wird und die religiösen Führer in Jerusalem an Autorität verlieren, denn was im Judentum gilt, bestimmen sie.

Nun auch das noch! Jesus kommt an einem Zollhaus vorbei und spricht den Zolleintreiber an, ihm zu folgen, in seinen Freundeskreis einzutreten. Zöllner sind die natürlichen Feinde frommer Juden, dienen sie doch den Römern in ihrem Finanz- und Steuersystem. Sie treiben das Wegegeld an Straßenkreuzungen, Stadttoren, Märkten und Brücken ein. "Er (der Zöllner) sitzt in einem festen Regelkreis von Macht, Geld, Verurteilung, Anlehnung und Isolation ..." [5] Die Zöllner setzen die römische Ausbeutungspolitik an der jüdischen Bevölkerung durch - und solche Leute liebt man nicht. Matthäus steht auf, er verlässt tatsächlich alles, seinen Wohlstand, seine finanzielle Sicherheit und geht mit, er geht in eine mehr als ungewisse Zukunft.

Doch zuvor wird mit allen, welche die Tischgemeinschaft mit Jesus suchen, gegessen, was den Ärger der Gegner Jesu noch steigert, denn "wie kann man sich nur mit Zolleinnehmern und ähnlichem Volk an einen Tisch setzen? Grenzen die Pharisäer aus Gründen des Reinheitsgebotes den vermeintlichen Sünder aus, so lädt Jesus gerade diesen in seine Gemeinschaft ein. Wir müssen, um diesen Text zu verstehen, den Konflikt sehen, der hier aufbricht. Hier scheiden sich die Geister. Und eben das machen auch die Antworten Jesu deutlich:

Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken ... Ich bin nicht gekommen, solche Menschen in Gottes neue Welt einzuladen, bei denen alles in Ordnung ist, sondern solche, die Gott den Rücken gekehrt haben ...
Wo ordnen wir uns da eigentlich ein, brauchen wir ordentlichen volkskirchlichen Christenmenschen - Gott, brauchen wir ihn als eine Art Arzt für unser krankes Leben und wenn, woran krankt eigentlich unser Leben?

Diese Aussagen stellen also auch uns vor schwierige Aufgaben. Es geht Jesus weder damals in Bezug auf seine Jünger, noch für uns heute einfach darum, dazu aufzufordern, ein wenig nett zueinander zu sein, also ein ethisches Verhalten zu praktizieren, sondern aus seiner Nachfolge heraus zu leben. "Nachfolge", so schreibt es Dietrich Bonhoeffer 1938 in schwierigster Zeit in seinem gleichnamigen Buch, "heißt bestimmte Schritte zu tun. Bereits der erste Schritt, der auf den Ruf hin erfolgt, trennt den Nachfolgenden von seiner bisherigen Existenz. So schafft sich der Ruf in die Nachfolge sofort eine neue Situation ... [6] Jeder ist allein gerufen. Er muss allein folgen ... [7] Alles andere würde unseren Glauben und unser Tun nur zu einem mehr oder weniger ethischen Verhalten verflachen, doch es geht Jesus ja um sehr viel mehr.

In diesem Wunder der Begegnung wird eine Nachfolge möglich, die Lebensverläufe verändert, wo fixierte Vorstellungen gesprengt, Vorurteile abgebaut, eine neue Beziehung zwischen Gott und Mensch und dem Menschen und seinem Gegenüber möglich wird. Gott beruft in die Nachfolge, und Menschen brechen auf, das ist das Wunder mit weitreichenden Konsequenzen.

Damit stehen wir - wie der unmögliche Zöllner Matthäus - vor der Frage, wie wir uns dazu verhalten wollen, dass ja auch wir selbst dazu aufgerufen sind, in die Nachfolge Jesu einzutreten und uns damit entscheiden zu müssen, in was für einer Welt wir leben wollen? Wie ertragen wir es, dass Menschen sich ihren Weg des Glaubens suchen, der so ganz anders aussieht, als der, den wir gehen? Leiden wir denn gerade in der Kirche nicht oft genug verständnislos darunter, dass Religiosität sich heute so oft ihre eigenen Wege sucht? Wie leben wir damit, dass es Menschen gibt, die von der Hand in den Mund leben und die doch glücklich dabei sind, - andere uns in Anspruch nehmen, die sonst scheinbar gar nichts mit uns zu tun haben wollen?

Begegnungen aus der letzten Zeit: da kommen am Werk- und am Sonntag zur passenden und unpassenden Zeit Menschen im Pfarrhaus vorbei, die Geld oder etwas zu Essen haben wollen, da fordern Durchwanderer am frühen Samstagmorgen ein paar frische Unterhosen vom Pfarrer oder Handschuhe von seiner Frau. Eine moslemische Familie braucht hier eine ganz konkrete Hilfe für die Versorgung der Kinder und des Haushaltes, ein afrikanisches Ehepaar benötigt Zeit und Zuwendung zur Suche vermisster Familienangehöriger in einem Rebellengebiet.

Ich empfinde es sehr häufig so, dass ich denke, das, was wir als Gemeinde sagen, leben und tun, müsste doch gerade auch randständige Menschen überzeugen, ihnen in unserer Mitte eine Heimat geben - um dann zu erfahren, dass es eben ganz anders ist. Dann wieder erlebe ich, wie sehr man sich plötzlich in der Kirche wohlfühlt, zu Hause ist, ohne je selbst damit gerechnet zu haben. Und schon finden wir uns in diesen Überlegungen wieder.

Wir sind es, die den Arzt brauchen, wir sind es, die in die Nachfolge gerufen sind und neu zu lernen haben, etwas aufzugeben, woran wir hängen - und sei es unsere eigene Vorstellung von Glaube und Kirche, von Christsein und Gemeinde, von Ordnung und Unordnung, von unserer Sicht vom Menschen, von liebgewordenen Gewohnheiten, die den Ruf in die Nachfolge ungehört sein lassen. Die Krankheit des modernen Menschen hat damit zu tun, dass er ein tragfähiges Vertrauen in Gott und Mensch verloren hat. Der Verlust umfassender Beziehungen vereinsamt ihn, er lebt auf sich selbst bezogen.

Jesus - und das haben wir als Christen oft aus dem Blick verloren - fordert vertrauende Beziehungen heraus, setzt sich ja gerade mit denen zusammen, die gesellschaftlich geächtet sind, er erwartet keine Opfer, sondern befreit dazu, sich eben als Sünder in die Kirche einzubringen und nicht als ein Heiliger! Wir dürfen also dazu stehen lernen, dass wir in Glaubensfragen unfertig sind, Suchende und doch angesprochen bleiben. Was mich dabei tröstet, ist, dass aus den Zöllnern, die hier mit Jesus zu Tisch sitzen, keine Pharisäer werden, keine Frommen im Lande, und sie dennoch seine Gemeinschaft teilen dürfen.

Das bringt uns auf die Spur. Durch das Wunder der Begegnung dürfen wir uns alle in Jesu Nachfolge eingeladen fühlen - und zwar genau so - wie wir sind und gerade nicht, wie andere Menschen uns gern hätten. Von hieraus fallen dann die ganz persönlichen Entscheidungen, in was für einer Welt wir leben wollen, hier kann dann - weder als ein Opfer, noch als religiöse Forderung an uns, unser eigenes ethisches Verhalten folgen. In einer Auslegung zu unserem Text wurde die Frage gestellt, "warum gibt es noch immer die Schwellenangst so vieler Menschen vor der Kirche? Es ist", so wurde gesagt, "die Angst, hier würde man auf einen moralischen Prüfstand gezerrt." Daher gilt tatsächlich: "Wir müssen von Jesus lernen ..." [8]

So ist die Kirche der Ort, an dem in die Nachfolge des Glaubens geworben werden soll, wo ein jeder Mensch sich eingeladen und geistig, wie geistlich heimisch wissen darf. Wer dann um seine Berufung weiß, der wird - wie der Zöllner Matthäus - seinen Weg zu Gott finden und den in die Welt, dorthin, wo wir gebraucht werden, gerade auch als Christen. Ja, wir dürfen noch viel von diesem biblischen Jesus lernen, bevor wir mit Gott und der Welt am Ende sind. Dort aber, wo das geschieht, da wird kein Unterdrückter mehr vertröstet, kein an den gesellschaftlichen Rand Verschobener missachtet, kein mit oft platten Vorurteilen belegter Mitmensch ungesehen und ungehört bleiben. So erst verändert sich die Welt, weil ihre Maßstäbe sich durch unser eigenes Verhalten zu Gott und zum anderen Menschen verändert haben.

Lassen wir uns dazu einladen, das Wort Jesu an Matthäus: "Komm, folge mir nach", als ein Wort an uns selbst zu hören, aufzubrechen und jeden Tag neu danach zu fragen, wie unsere eigene Berufung zur Nachfolge, wie also unser Glaube gelebt und zur Hoffnung für die Welt werden kann. Wir müssen uns entscheiden, in was für einer Welt wir leben und in was für eine Zukunft wir hineingehen möchten.
Amen.


Literatur:

  1. Safranski, R., Nietzsche, Biographie seines Denkens, München 2000, S. 194
  2. Safranski, a.a.O., S. 314
  3. Safranski, a.a.O., 307
  4. Marx, Engels, Über Religion, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie,
    Berlin, 1958, S. 30f
  5. Zobeltitz v., L.F., Deutsches Pfarrerblatt, Heft 1/2001, Septuagesimae
  6. Bonhoeffer, D., Nachfolge, München 19378, S. 33
  7. Bonhoeffer, a.a.O., S. 70
  8. Zobeltitz v., a.a.O.

Letzte Änderung: 04.06.2001
Pfr. Hanns-Heinrich Schneider