Evangelische Kirchengemeinde Kenzingen

27.09.1998, 16. Sonntag nach Trinitatis,
Wahlen zum Deutschen Bundestag,

Matth. 22, 21:

Da sprach er (Jesus) zu ihnen: "So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist"!

Liebe Gemeinde!

Angesichts der Not des kirchlichen Widerstandes zur Zeit des Dritten Reiches stellt der evangelische Theologe Karl Barth einmal zuversichtlich und voller Vertrauen fest: "Er (Gott) regiert die Welt, auch wenn die Staaten der Welt schlecht regiert werden..." Mit den Worten: "Es wird regiert!" verabschiedet der altgewordene Karl Barth seinen alten Freund Eduard Thurneysen nach einem längeren Gespräch über die dunkle Lage der Welt in der Nacht, in der er verstarb. "Es wird regiert"!

Diese Worte können uns helfen, unser Verhältnis als Christen in unseren Kirchen zum Staat zu bedenken. Nirgendwo ist uns in der Bibel und damit auch nicht in unserem Glauben Gleichgültigkeit und Desinteresse in politischen Fragen geboten. Nirgendwo eine Neutralität, die unser Land, sich selbst oder anderen überläßt, damit wir unsere Hände in den Schoß legen können. Die Bundestagswahlen fordern uns heute dazu heraus, Position zu beziehen, zu entscheiden und zu wählen, wem wir unser persönliches Vertrauen schenken und unsere Stimme geben möchten. Wie es auch kommen mag, eine Richtungsentscheidung wird es nicht geben. Auch morgen wird über uns die Sonne aufgehen, ohne dass es eine Revolution oder gar den Weltuntergang geben würde. Christen wissen: "Es wird regiert!"

Was wir zu tun haben, ist abzuwägen, zwischen welchen Möglichkeiten wir uns entscheiden wollen. Uns ist in den vergangenen vier Jahren ja einiges zugemutet worden. So stehen wir nun vor der Frage, wer uns regieren soll, von wem wir uns regieren lassen wollen und welche Maßstäbe wir für unsere Wahl setzen? Die vielen unentschiedenen Wähler machen das Problem deutlich, und die Gründe hierfür werden von den Verantwortlichen nach den Wahlen noch zu bedenken sein. Denn: Politikverdrossenheit fällt nicht vom Himmel, sie hat Gründe.

Jesus selbst sagt in einer bestimmten Situation: "So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!" Das heißt: Wir können uns nicht zurückziehen: Das Land, in dem wir leben, arbeiten, wohnen, unsere Freizeit gestalten und verbringen, ist uns anvertraut. Da gibt es die Wirtschaft, den Handel, das Dienstleistungsgewerbe, die dafür sorgen, dass Arbeit und Geld vorhanden ist, die damit in einem großen Maße Verantwortung tragen. Wir sind hinein genommen in ein kulturelles Erbe, das uns verpflichtet: Unsere Sprache, Kunst, Literatur, Malerei und Bildhauerei, die nicht verkommen dürfen. Hierzu gehört auch die Bildung, die wir erwerben, weil sie uns geistige Normen zur Lebensbewältigung und Sinnerfüllung vermittelt, die nun in gleicher Weise in der Schule an die nachfolgenden Generationen weiterzugeben ist.

Die Kirche ist kein Staat im Staat, aber die Glieder einer Kirche sind Bürger eines Staates und von daher aufgefordert, ihr Wort zu sagen, wollen sie ihrem Glauben, ihren ethischen Maßstäben gerecht werden.

Wir müssen heute daran erinnern, dass zur politischen Gestaltung mehr gehört, als der Wunsch, dass es so weitergehen soll, wie bisher, - oder jener, die Regierung abzulösen. Wir werden unsere Politiker sehr viel kritischer zu begleiten und unser Wort auch zwischen Wahlen deutlicher zu sagen haben. Christen schulden den Politikern ihr Wort, weil sie Christen sind, gerade sie haben sich verantwortungsvoll einzubringen und nicht neutral zu bleiben, eine Neutralität, die oft mit Gedankenlosigkeit und Gleichgültigkeit verwechselt wird. Dabei wurde das Sozialwort der Kirchen z.B. so sehr mit Lob zugeschüttet, dass kaum noch etwas davon übrig geblieben ist.

Es wäre verantwortungslos, wenn Christen - ja auch die Kirchen - Politiker den Interessenverbänden überlassen würden, die alle nur den eigenen Weg und Vorteil im Blick haben. Wir haben uns aus unserem Glauben heraus für die Welt zu engagieren, für die Gott uns verantwortlich gemacht hat - und damit auch für all jene, deren Interessen keiner genug wahrnimmt. Ganz zu schweigen davon, dass ja gerade die Kirchen darüber hinaus zu den großen Arbeitgebern zählen. Die Evang. Landeskirche in Baden hat immerhin über 20 000 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Hier zu schweigen, hieße, sich der Mitverantwortung für unsere Gesellschaft zu entziehen.

Wir sind heute auch hier in Kenzingen zu einer weiteren Wahl aufgerufen und sollen uns zum Amt unserer Bürgermeisterin äußern. Wir alle spüren betroffen die problematische Situation. Aber, die Situation ist, wie sie ist, und daher sollten wir alle nun auch sagen, was wir wollen. Das hilft allen, sich ein Bild vom Bürgerwillen zu machen und zu einer Klärung der Situation beizutragen. Um es klar zu sagen, es steht jedem Bürger in einer Demokratie zu, sich zu äußern. Wähler und Gewählte schulden einander auch zwischen Wahlen Respekt und Verantwortung. So sind wir in unserem Gewissen gefragt. Jedes deutliche Votum wird auf allen Seiten, bei allen Beteiligten, dazu beitragen, nachzudenken und die eigene Überzeugung hoffentlich noch einmal zu überprüfen.

Dass wir als Christen "Herrschaft" zu akzeptieren haben, steht außer Frage, aber die Kontrolle dieser Herrschaft liegt auch bei uns. "Im Raum der Bürgergemeinde ist die Christengemeinde mit der Welt solidarisch und hat sie diese Solidarität resolut ins Werk zu setzen..." (K. Barth), dies ja vor allem darum, weil es keinen "christlichen" Staat gibt, ja nicht einmal eine "christliche" Politik. Es reicht, dass Menschen Politik aus der christlichen Ethik heraus betreiben und damit um ihre Verantwortung Gott und den Menschen gegenüber wissen. Ein Staat ist keine Kirche, und Politik ist keine Religion.

Dort, wo wir beten: "Dein Reich komme..", bitten wir um die Gegenwart Gottes, nicht aber um einen - wie immer gearteten - religiösen oder gar christlichen Staat. Die christliche Kirche ist nicht das Reich Gottes, aber sie weiß darum und wird sich so von ihrem Glauben leiten lassen. Von daher unterscheiden wir die Herrscher der Welt im politischen Raum von dem Herrscher der Welt im biblischen Sinne. Dieser ist es, der letztendlich regiert, der den Tag und die Nacht macht, der zu unserem Leben sein JA sagt. Auch unsere Politiker täten gut daran, sich dessen in Ihrem gesellschaftlichen Dienst zu erinnern und damit auch der ihnen gesetzten Grenzen. Das Verhältnis von Staat und Kirche ist dadurch gekennzeichnet, dass der mündige Christ auch ein mündiger Bürger ist.

Als solcher hat er sich für die Freiheit einzusetzen, für soziale Gerechtigkeit, für alle, die ihr Leben noch nicht oder nicht mehr oder sei es zeitweilig nicht selbst organisieren können: Die Kinder, die alten oder die kranken Menschen. Wer aus der Gegenwart heraus die Zukunft angehen und politisch gestalten will, darf nicht stehen bleiben, der braucht Mut, Phantasie und den unbedingten Willen, das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben organisieren zu helfen.

In den vergangenen Jahren wurde uns oft nach dem Mund geredet. Wir wußten nicht, woran wir waren, es fehlte an Eindeutigkeit und Klarheit in der politischen Entscheidung. Wir wurden verärgert, weil manche - nicht etwa alle (!) - Politiker ihr politisches Amt für ihre persönlichen Zwecke mißbrauchten, der Buß- und Bettag kurz und bündig als Feiertag abgeschafft wurde. Darum darf man sich dann nicht wundern, wenn es Menschen gibt, die nun Protestparteien wählen. Aber diese haben keine Kraft und nicht das Format, das Land verantwortungsbewußt zu regieren. Und sie werden mit ihrem Protest auch den Bedürfnissen der Mehrheit in diesem Land nicht gerecht.

"Da sprach er (Jesus) zu ihnen: So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!" Liebe Gemeinde! Wenn Jesus hier vom Kaiser spricht, so meint er den Kaiser in Rom, doch er zeigt damit keinen Weg zu einer bestimmten Regierungsform auf. Die Entscheidung, wie Menschen regiert werden wollen, gehört in die Welt, sie ist an keine Vorgabe Gottes gebunden, der schon dem Königtum in Israel kritisch gegenüber steht. Was wir dem demokratischen Staat schulden, dem wir so unendlich viel verdanken, sind neben unseren Steuern auch unsere kritische Entscheidung, unsere Wahl. Was wir Gott schulden ist unser Glaube und unsere Verantwortung für den Mitmenschen und die uns anvertraute Schöpfung.

Jeder, der politisch Verantwortung trägt, ist zu allererst Gott Verantwortung schuldig und dann den Menschen, die er regiert. Dies gilt für alle Politiker, ganz gleich, auf welcher Ebene sie sich engagieren. Ich weiß, dass dies für einige von uns befremdlich klingt. Ein Politiker ist uns greifbarer, aber wenn wir einmal ganz ruhig die entscheidenden Fragen unseres Lebens überdenken, so werden wir sehr bald dahinter kommen, dass die nicht von Politikern gelöst werden und dass wir mit unseren wirklichen Sorgen oder Freuden sehr bald vor der Frage nach Gott stehen.

Geben wir den wählbaren Mitbürgern in politischer Verantwortung heute ein neues Mandat. Das sind wir ihnen und uns allen schuldig. Kein Bischof und kein Pfarrer kann Ihnen sagen, was Sie wählen sollten, aber ich sage Ihnen, dass alle unsere demokratisch legitimierten Parteien wählbar sind. Prüfen Sie, was dem Frieden, der Freiheit und der sozialen Gerechtigkeit dient, damit werden dann automatisch alle ausscheiden, die eben unter diesem Gesichtspunkt nicht für uns, für Christen, zu wählen sind. Den Haßpredigern und Ausgrenzern, den Fremdenfeindlichen und Radikalen mit ihren Parolen, haben wir keine Stimme zu schenken.

Es gibt eine Auswahl an politischen Parteien und an Menschen, denen wir durchaus unser Vertrauen schenken können. Wählen wir, und geben wir so im Bild gesprochen, "dem Kaiser, was des Kaisers ist". Ein letztes Wort wird das nie sein, denn: "Es wird regiert"! das heißt: Keine Resignation, keine Angst vor der Zukunft, aber bitten wir Gott um seinen guten Geist für diese Wahlen und für alle, die in Staat und Gesellschaft Verantwortung tragen. Amen. Letzte Änderung: 13.11.2000
Pfr. Hanns-Heinrich Schneider