Evangelische Kirchengemeinde Kenzingen

3. Sonntag nach Trinitatis, 1.7.2001
Lukas 19, 1-10

Begrüßung:

So ist es wohl mit uns Menschen, mal sind wir oben, mal unten, doch wie oft haben wir selbst Anteil daran, Menschen in die Luft und auf die Bäume zu treiben. Umgekehrt, wie oft müssen wir selbst uns groß machen, um überhaupt noch gesehen zu werden? Es geht darum, wie wir leben und wozu wir leben, eine Frage, die tief in unsere Existenz eingreift. In der Geschichte vom ganz großen, kleinen Zachäus wird uns eine Spur aufgezeigt, der wir einmal folgen könnten, um durch die Begegnung mit Gott uns selbst und unsere Menschlichkeit zu entdecken. Der Geist ist es, der da lebendig macht ... (Joh. 6, 63).

Gebet:

Gott, viele Menschen in unserer Welt, in unseren Familien, in unserer Nachbarschaft, im Betrieb oder in der Schule fühlen sich abgeschrieben, verloren und vergessen - auch durch uns. So schenke uns heute durch dein Wort und deinen guten Geist, dass wir Wege finden, die nicht mehr abgrenzen und trennen, Wege, die zueinander führen und zu dir durch Jesus Christus, der schon ganz andere Menschen als uns beachtet, sie von den Bäumen zurück ins Leben geholt hat.

Herr, so wir danken dir, dass du uns hierher in diesen Gottesdienst begleitet und geführt hast, dein Wort, dein guter Geist kann, wo wir dies zulassen, unser Leben auf einen festen Grund stellen. Lass uns zuversichtlich glauben und so miteinander leben und umgehen, wie es unserer gottgewollten Menschlichkeit entspricht. Hole uns, wo es uns auf die Bäume und in die Luft treibt, immer wieder zurück auf den festen Boden eines tragfähigen Glaubens, damit wir zu einem guten, ja glaubwürdigem Zeugnis in der Welt werden. Amen.

Predigttext:

Jesus ging nach Jericho hinein und zog durch die Stadt.

In Jericho lebte ein Mann namens Zachäus. Er war der oberste Zolleinnehmer in der Stadt und war sehr reich. Er wollte unbedingt sehen, wer dieser Jesus sei. Aber er war klein, und die Menschenmenge versperrte ihm die Sicht. So lief er voraus und kletterte auf einen Maulbeerfeigenbaum, um Jesus sehen zu können; denn dort musste er vorbeikommen. Als Jesus an die Stelle kam, schaute er hinauf und redete ihn an: »Zachäus, komm schnell herunter, ich muss heute dein Gast sein!« Zachäus stieg schnell vom Baum und nahm Jesus voller Freude bei sich auf. Alle sahen es und murrten; sie sagten: »Bei einem ausgemachten Sünder ist er eingekehrt!«

Aber Zachäus wandte sich an den Herrn und sagte zu ihm: »Herr, ich verspreche dir, ich werde die Hälfte meines Besitzes den Armen geben. Und wenn ich jemand zuviel abgenommen habe, will ich es ihm vierfach zurückgeben.« Darauf sagte Jesus zu ihm: »Heute ist dir und deiner ganzen Hausgemeinschaft die Rettung zuteil geworden! Auch du bist ja ein Sohn Abrahams. Der Menschensohn ist gekommen, um die Verlorenen zu suchen und zu retten.«

Lukas 19, 1 - 10


Liebe Gemeinde!

Erinnern Sie sich? Erinnern Sie sich, wann Sie zum letzten Mal von einem anderen so richtig auf die Palme gebracht wurden, vielleicht in Ihrer Familie, im Beruf oder der Schule, im Zusammenleben in Ihrem Verein oder der Organisation, in der Sie sich engagieren, einfach, weil etwas nicht so klappte, wie Sie es sich vorgestellt und gewünscht haben?

Es ist heute ja sehr leicht, jemanden auf die Palme zu bringen, die Gründe hierfür liegen auf der Hand. Da fehlt uns die Distanz zum Konfliktpunkt; der Alltag hat uns über die Maßen in Anspruch genommen, die Reserven fehlen einfach im Augenblick; der Beruf, die Prüfungen in der Schule fordern uns, die Nerven liegen blank. Dass wir Menschen auf die Bäume bringen können, ist uns also wohlbekannt, doch wie bringen wir sie von dort wieder auf den Boden: auf den Boden der Tatsachen; den Boden einer zwischenmenschlichen Beziehung; den Boden, der jeden von uns so leben lässt, wie wir es für uns brauchen; ja selbst auf den Boden, von dem aus wir noch einmal ganz anders in unser Leben hineingehen und die Zukunft gestalten können.

Umgekehrt: Auf was für einen Baum, so wird sich mancher fragen, müsste ich in der Familie, dem Beruf, meinem Verein oder unserer Kirche klettern, um endlich einmal beachtet zu werden; die Zuwendung zu erhalten, die ich mir so sehr wünsche; das an Liebe zu erfahren, was mein Leben lebenswert macht, mir Luft zum Atmen schenkt und einen weiten Raum für all das, was mich mit meinen Möglichkeiten und Fähigkeiten ausmacht, wofür ich gern leben würde, all das, was ich kann und daher auch für andere einbringen könnte, wenn man mich nur einmal ließe?

In dieser vermutlich wohl mit bekanntesten Geschichte des Neuen Testamentes geht es um den Lebenslauf eines großen, kleinen Mannes. Lebensläufe ergeben sich, man wächst ja mit jedem Tag seines Lebens ein Stück weiter in ihn hinein. Da gibt es große Unterschiede zu anderen Lebensläufen, aber manches erkennen wir ja bei anderen Menschen wieder: wir teilen mit vielen anderen gemeinsame Hoffnungen und Wünsche, aber auch Angst und Resignation. Wir teilen die gleichen Straßen in unserer kleinen Stadt, die Geschäfte, Banken und Schulen, unsere Kirchen, und doch geht jeder von uns letztendlich seinen Weg, er lebt mit seinen Erinnerungen, wird reif für seine eigenen Erfahrungen.

Auf dieser Reise durch das Leben überschreiten wir Schwellen. Jede Altersstufe fordert uns anders, jede Herausforderung, die wir meistern, bringt uns ein Stück voran, wie jetzt alle Schülerinnen und Schüler, die in unterschiedlichsten Schularten Prüfungen abzulegen, zu bestehen haben, aber dennoch nicht erahnen können, dass es noch ganz andere Prüfungen im Leben zu bestehen geben wird. Wir fragen nach dem Woher eines jeden Menschen, nach unseren Wurzeln, doch zugleich danach, wohin unsere Lebensreise gehen wird, mit welchem Ziel und Sinn?

Zachäus ist so einer! Ein großer, kleiner Mann, der sich schützen, verteidigen muss, der alle Mittel und Möglichkeiten hat und doch nur von jenen beachtet wird, die ihn für ihre Zwecke benutzen und all jenen, die ihm sehr viel lieber aus dem Wege gehen, ein isolierter, armer Mensch in allem Besitz und Reichtum: Zöllner, Finanzbeamte, Leute, die mit den Römern gleiche Sache machen, deren Interessen gegen das eigene Volk durchsetzen, Steuern eintreiben und sich selbst bereichern? So einen liebt man nicht, wir kennen das aus Politik und Wirtschaft. Doch wären wir anders, - sind wir es, wenn wir in unser Berufs- und Familienleben schauen? Vertreten wir denn nicht unsere Interessen ebenso, sogar gegen andere, auch dann noch, wenn sie auf der Strecke bleiben? Man muss ja nicht Zöllner oder Finanzbeamter sein, um auf vielfältigste Weise auf Kosten anderer zu leben.

Da ist Jesus, dieser unvergleichliche Mensch, geliebt und gehasst. Er ist bekannt in Israel, wirbt darum, Gott endlich wieder Gott sein zu lassen, damit der Mensch sich in seiner Menschlichkeit erkennen lernt. Dieser Jesus zwingt zur Auseinandersetzung: er lehrt, argumentiert, lebt, was er sagt, er lässt spüren, dass er den anderen ernstnimmt, mehr noch, dass er den Menschen liebt, weil er Gott liebt und dies sogar seine Gegner erfahren lässt. Es ist ganz offensichtlich, so einen liebt man nicht unbedingt, denn sonst wäre er nicht an einem Kreuz, sondern vermutlich alt und lebenssatt in Kapernaum gestorben.

Die Massen laufen zusammen, Zachäus kennt sein Problem, so steigt er auf einen Baum, einen Maulbeerbaum. Immerhin, auch in dieser Position sitzt er über den anderen, über der Masse. Und wieder geschieht hier nun etwas von unglaublicher Dynamik. Der kurzfristig ins Exil gekletterte, ungeliebte Zöllner wird von diesem umstrittenen Jesus, dessen Feinde ihre Feindschaft seit längerem pflegen und ihn nur allzu gern zur Strecke bringen würden, angesprochen. Der doppelte Skandal ist perfekt: Man spielt nicht mit den Schmudelkindern, das lässt man lieber bleiben ... [1]

Jesus holt Zachäus von seinem Baum und sagt ihm: "Ich muss heute dein Gast sein!" Unschwer können wir uns vorstellen, dass nun die Gegner Jesu wieder auf den Bäumen sitzen, denn wie kann einer, der für Gott wirbt, einen ausgemachten Sünder ansprechen und dazu noch mit ihm essen wollen, Hausgemeinschaft, ja sogar Mahlgemeinschaft teilen und feiern? Gerade so besticht das Vorbild Jesu. Unbequem solidarisiert er sich mit all jenen, die am Rande stehen und - aus welchem Grund auch immer - ausgegrenzt sind. So wirbt er einladend in seine Nachfolge und verhilft zu einer neuen Art von Leben und Lebendigkeit. Es sind wohl gerade diese Stellen der Bibel, die mich faszinieren, die mir helfen, trotz allem heute noch als Christ leben zu wollen. Hier ist einer, der mir zeigt, wie man mit den Menschen umgeht, die andere ausgrenzen.

Natürlich ist es lästig, wenn jetzt wieder fast täglich Durchwanderer zu jeder unmöglichen Tages- und Nachtzeit an der Haustür stehen, um zu betteln. Natürlich bin ich in Anspruch genommen und in meinem Wohlstand hinterfragt, wenn ich unsere Asylbewerber besuche, denn wie gehe ich damit um, dass andere anders leben müssen, als ich selbst, weil es ihnen einfach schlechter geht, als mir und meiner Familie? Wie werde ich damit fertig, dass andere einen anderen way of life, einen ganz anderen Lebensentwurf, eine andere Sicht vom Leben haben, als ich? Was mache ich mit Schülern, die bei mir in Religion eine Prüfung ablegen sollen, die sich aber darauf verlassen, dass sie es schon ohne Leistung schaffen werden, also, ohne etwas zu tun? Grundsätzlich gefragt: Wie begegne ich einem Menschen, der mich selbst vielleicht auf die Palme bringt, weil er mich, wodurch auch immer, in meinem Weltbild hinterfragt, vielleicht sogar verunsichert? In diesem Gegenüber erkenne ich den Sinn meiner Existenz als Christ, mit weitreichenden Folgen für mein Leben.

Denn sitze ich nicht selbst immer mal wieder auf einem Baum und werde sogar heute noch vom Wort und Geist Jesu getroffen, heruntergeholt? Dieser Mensch Jesus von Nazareth zeigt uns doch gerade in solchen Konfliktsituationen, wie Menschlichkeit, wie Nachfolge aussehen kann. Er orientiert uns neu und anders, weil er uns gedanklich zu Gott hin orientiert und wir von Gott aus gar nicht anders können, als unsere Menschlichkeit zu erkennen. Das hat nichts mit Dummheit zu tun, hier geht es nicht darum, dass wir uns - auf welche Weise auch immer - ausplündern, ausnutzen oder benutzen lassen. Auch Jesus hat sich oft genug abgegrenzt, nicht jedem geholfen, der sich ihm in den Weg stellte. Aber er sah hin, hat unterschieden, spürte, wo er gebraucht wurde.

Zachäus nimmt Jesus bei sich auf. Und Jesus teilt mit ihm das Mahl. Er sieht hier nicht Zachäus, den Zöllner, sondern er sieht Zachäus, den Mitmenschen - das allein rechtfertigt sein Verhalten: darin wird er zum Vorbild, darum sind wir gefragt, wie wir uns zu ihm, zu anderen Menschen verhalten? Die Kirchensteuer ist leicht bezahlt (Man spürt es ja kaum, wenn sie eingezogen wird). Doch wie sieht es damit aus, Menschen von ihren Bäumen zu holen, ihnen ein Exil in unserer Menschlichkeit zu geben?

Eine kritische Frage bleibt für mich: wenn Jesus mit einem ausgemachten Sünder zu Tisch sitzt und das Mahl feiert, warum kann ich dann nicht heute Nachmittag in St. Laurentius als evangelischer Christ das Mahl feiern, wenn ich dort bei der Firmung von 65 jungen Leuten sein werde, um unsere Grüße, die der Evangelischen Kirchengemeinde, in jenem Gottesdienst zu überbringen? Dabei wissen wir, dass unser katholischer Pfarrer uns alle zum Mahl, zur Eucharistie einladen würde, doch das kirchenoffizielle Problem der Ausgrenzung bleibt.

Durch diese kleine biblische Geschichte sehen wir, dass in der Begegnung mit Gott und unseren persönlichen Glauben Menschen noch ganz woanders hin geholt werden können, als nur von einem Baum herunter - und Wege geführt, die man selbst vielleicht gar nicht gehen will, jenseits aller Pläne und Lebensentwürfe. Aber gerade das sind die Wege, zu denen das Beispiel Jesu uns ermutigt und der Glaube an Gott uns befähigt.

Ganz gleich, wie unser Leben aussieht, wir müssen nicht auf Bäume steigen, um beachtet zu werden, wir dürfen andere nicht dorthin vertreiben, um in Ruhe gelassen zu sein. Nicht schlecht wäre ein Baum dann, wie für Zachäus, wenn er uns den Überblick schenken würde, um so schnell als möglich auf den Boden der Tatsachen zurückzukehren und das Leben und den Lebensweg von dorther weiter zu gehen.

Jesus bei uns zu Hause, bei Tisch, bei einem guten Glas Wasser, Wein oder Bier mit einem Gespräch über Gott und die Welt? Auch wir kämen nicht davon: denn auch uns würde er werben, für die Nachfolge in einen Glauben, der mit Gott rechnet und den Menschen gerecht wird. Hier bleibt zu überlegen: Tür auf oder zu, lasse ich mich darauf ein oder lieber nicht? Jesus sagt: "Ich muss heute dein Gast sein!" Also: Nicht irgendwann, heute sind wir gefragt, wie wir uns verhalten werden, denn ganz augenscheinlich gibt es ein zu spät! Bequem ist es sicher nicht, wenn Jesus uns von unseren Bäumen herunterholt und bei uns selbst zu Gast sein will - über diesen Tag hinaus. Feiern wir also das Mahl miteinander aus diesem guten Geist heraus und mit allen, die es mit uns teilen möchten.
Amen.


Literatur:

  1. Zitiert nach: Degenhardt, F.J., Spiel nicht mit den Schmuddelkindern,
    Hamburg 1969, S. 45

    Weiterführende Literatur:

    Luther, M., Evangelien-Auslegung, Bd. 3, Hrsg. E. Mühlhaupt,
    Göttingen 19684, S. 225f

    Biehl, M.+U., Calwer Predigthilfen, 2000/2001, Stuttgart 2001, S. 60ff

    Gollwitzer, H., Und führen wohin du nicht willst, München 19523

Letzte Änderung: 01.07.2001
Pfr. Hanns-Heinrich Schneider