Evangelische Kirchengemeinde Kenzingen

5. Sonntag nach Trinitatis,
Ökumenischer Gottesdienst zur
"Woche für das Leben" und dem "Jahr des Ehrenamtes"

unter Einbeziehung in der Liturgie von ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus Kirchen und Gesellschaft

"Menschen würdig pflegen!" -
im Jahr des Ehrenamtes ...

Predigttext:

Dann wandte sich Jesus zu seinen Jüngern, den Männern und Frauen, und sagte: `Ihr dürft euch freuen, dass Gott euch die Augen gab, zu sehen und zu verstehen, was hier geschieht. Ich sage euch: Viele Propheten und Könige wollten sehen, was ihr jetzt seht, aber sie haben es nicht gesehen. Sie wollten hören, was ihr jetzt hört, aber sie haben es nicht gehört.’ Da kam ein Gesetzeslehrer und wollte Jesus auf die Probe stellen; er fragte ihn: `Lehrer, was muss ich tun, um das ewige Leben zu bekommen?’ Jesus antwortete: `Was steht denn im Gesetz? Was liest du dort?’ Der Gesetzeslehrer antwortete: `Liebe den Herrn, deinen Gott, von ganzem Herzen, mit ganzem Willen und mit aller deiner Kraft und deinem ganzen Verstand! Und: Liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst!’ `Du hast richtig geantwortet’, sagte Jesus. `Handle so, dann wirst du leben.’

Aber dem Gesetzeslehrer war das zu einfach, und er fragte weiter: `Wer ist denn mein Mitmensch?’ Jesus nahm die Frage auf und erzählte die folgende Geschichte:

`Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab. Unterwegs überfielen ihn Räuber. Sie nahmen ihm alles weg, schlugen ihn zusammen und ließen ihn halbtot liegen. Nun kam zufällig ein Priester denselben Weg. Er sah den Mann liegen und ging vorbei. Genauso machte es ein Levit, als er an die Stelle kam: Er sah ihn liegen und ging vorbei. Schließlich kam ein Reisender aus Samarien. Als er den Überfallenen sah, ergriff ihn das Mitleid. Er ging zu ihm hin, behandelte seine Wunden mit Öl und Wein und verband sie. Dann setzte er ihn auf sein eigenes Reittier und brachte ihn in das nächste Gasthaus, wo er sich weiter um ihn kümmerte. Am anderen Tag zog er seinen Geldbeutel heraus, gab dem Wirt zwei Silberstücke und sagte: `Pflege ihn! Wenn du noch mehr brauchst, will ich es dir bezahlen, wenn ich zurückkomme.’

`Was meinst du?’ fragte Jesus. `Wer von den dreien hat an dem Überfallenen als Mitmensch gehandelt?’ Der Gesetzeslehrer antwortete: `Der ihm geholfen hat!’ Jesus erwiderte: `Dann geh und mach du es ebenso!’

Lukas 10, 23 - 37


Liebe Gemeinde!

Wie muss ich leben, damit mein Leben sinnvoll ist? Wie muss ich leben, damit ich meiner Menschenwürde gerecht werde? Wie muss ich leben, damit am Ende nicht alles vergeblich und sinnlos war? Wie muss ich leben, damit etwas von mir bleibt, das über den Tod hinaus reicht? Mehr oder weniger fragt sich das jeder Mensch irgendwann in seinem Leben, so auch dieser Gesetzeslehrer, der Jesus auf die Probe stellt. Und Jesus fragt ganz kurz und knapp nach dem zurück, was ihm sein Glaube gebietet. Die Antwort darauf fällt eindeutig aus, mit einem Hinweis auf die Liebe zu Gott und zum Mitmenschen. Für Jesus, wie seine Väter und Mütter im Glauben reicht es also nicht, einfach nur human zu sein, sondern die Humanität, die Menschlichkeit des Menschen leitet sich aus seinem Glauben an diesen menschenfreundlichen Gott ab.

So ist es ja oft: wir kennen die richtigen Antworten, aber wir leben so, als würden wir sie nicht kennen. Ist es denn nicht ganz arg lieb, dass wir jetzt in unserer Tageszeitung lesen konnten, dass die "USA tolerant" sein möchten? Das Kyoto-Protokoll wird nicht unterzeichnet, weil das der Wirtschaft schaden könnte, doch man wird, weil es nichts kostet, die UN-Klimakonferenz in Bonn nicht scheitern lassen und tolerieren. [1]

Jeder weiß, dass sich etwas ändern muss, dennoch wird nicht über den eigenen Rand hinausgeschaut. Auf diese Weise bleibt man sich selbst der Nächste und der Klimaschutz ein Thema für viele weitere Sonntagsreden. Auch so können wir alle weltweit unter die Räuber fallen.

Zur Geschichte vom "Barmherzigen Samariter" sagte Martin Luther in einer Predigt: "Das ist der reichen Evangelien eins, in dem alles auf einen Haufen gefasst ist, was man durchs ganze Jahr, ja immerfort predigen kann. Drum wäre viel von ihm zu predigen, wenn's einer könnte und wenn man Zeit hätte, solche Predigt täglich und reichlich zu hören ..." [2] Mit unserem Text sind wir jeden Tag neu an einen Anfang unseres Glaubens gestellt, einem Glauben, der zur Tat werden muss. Sonntagsreden und wohlklingende Entschuldigungen für unser Wegsehen gelten hier nicht mehr. Die Antwort Jesu, auf die Frage nach meinem Nächsten, ist eindeutig und klar.

Der Nächste ist mir der, der mich braucht. Nächster ist man also im geistlichen Sinne nicht durch Geburt oder Neigung allein, sondern auch dadurch, dass ich mit wachen Augen durch mein Leben gehe und der Tatsache Rechnung trage, dass ich als Mensch nicht isoliert - wie auf einer Insel der Glückseligen - leben kann. Daran werden wir jedes Jahr mit der "Woche für das Leben" neu erinnert, die im Jahr 2001 unter dem Leitgedanken "Menschen würdig pflegen" steht.Das ganze Jahr ist der Freiwilligenarbeit oder, wie wir es in der Kirche sagen, den Ehrenamtlichen gewidmet.

Mit jeder neuen "Woche für das Leben" stellt sich Christen die Frage Jesu: Wer von diesen hat als Mit-Mensch gehandelt, die damals in seiner Geschichte bis auf den einen Fremden nichts taten und mit sicher guten Gründen vorüber gingen? Seitdem steht für uns nicht mehr die akademische Frage im Raum "wer ist mein Nächster?", sondern "wem werde ich selbst zum Nächsten?", nicht, wer liebt mich?, sondern wen liebe ich? Und wer die Antwort auf diese Fragen in seinem Leben sucht, der wird jeden Tag neu mit seinem Glauben, seiner Menschlichkeit anzufangen haben, für den wird dann auch die Frage nach dem Sinndes Lebens und der Würde eines Menschen bald beantwortet sein.

In den Gemeinden der Badischen Landeskirche (ohne das Diakonische Werk) gibt es etwa 49.000 ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, in der Erzdiözese Freiburg sind es über 60.000 Menschen, die sich ehrenamtlich einbringen. In der St.-Laurentius-Pfarrei sind über 300 Menschen aktiv, in der evangelischen Kirchengemeinde über 150. Dabei gibt es kaum Unterschiede, ob sich jemand in einer Kirchengemeinde oder in anderen Bereichen unserer Gesellschaft engagiert, z.B. im Roten Kreuz, dem Technischen Hilfswerk, den Johannitern, der Feuerwehr, den zahllosen Musik- oder Sportvereinen. Ganz sicher unterscheiden sich aber die Motivationen für einen solchen Einsatz.

In einer Publikation der Robert Bosch Stiftung wird hierzu ausgeführt:

Ehrenamt und Freiwilligentätigkeit sind in den letzten Jahren zu bedeutenden Themen in der öffentlichen und fachlichen Diskussion geworden. National und International erfahren Bewegungen und Initiativen, die auf Selbsthilfe, Bürgerengagement, Solidarität und Gemeinsinn setzen, gegenwärtig eine noch vor wenigen Jahren nicht für möglich gehaltene Beachtung bei Bürgern, in der Fachwelt und in den Medien. Diese Entwicklung hat gewichtige gesellschaftliche Gründe: Im Zuge der Globalisierung von Wirtschaft, Ökonomie und Kommunikation vollziehen sich offenbar Prozesse des sozialen Wandels, die in den sozialen Systemen ... auch umfassende Wertedebatten in Gang gebracht haben ... [3]
Mancherlei Sinnkrisen und Infragestellungen verbindlicher Werte führen zunehmend zur Sinnsuche und Sinnfindung.

Wir alle wissen, wie schnell man heute unter die Räuber fallen kann und fast erschlagen am Wegrand liegen bleibt. In einer Gesellschaft, in der jeder sich selbst der Nächste ist, muss daher das Ehrenamt, die ehrenamtliche Mitarbeit in den Kirchen, den Verbänden und Organisationen, kulturellen, wie sportlich orientierten Vereinen überaus gewürdigt werden. So sehen wir hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kirche mit großer Dankbarkeit das Engagement Vieler in unseren Gemeinden. Dabei darf allerdings nicht vergessen werden, dass ja auch Hauptamtliche sich über ihre berufliche Arbeit hinaus ehrenamtlich einbringen. Ihnen allen, wo immer Sie sich in unseren Gemeinden oder wo auch immer in unserer Gesellschaft - neben Ihren Berufen - einbringen, ein herzliches Dankeschön.

"Menschen würdig pflegen", mit diesem Gedanken ging man in die diesjährige Woche für das Leben. Bei rund 2 Millionen pflegebedürftigen Menschen in unserem Land bekommt dieses Wort ein ganz besonderes Gewicht. Gepflegt wird in Krankenhäusern, in Alten- und Pflegeheimen, in Hospizen und in unzähligen Familien. Pflegepersonal, Ärzte, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Hospizbewegungen, Pfarrer und Angehörige setzen sich dabei, oft genug über ihre Kräfte hinaus, für die Begleitung und Pflege anderer ein. Dies muss einerseits ganz praktisch und handgreiflich geschehen, wie aber andererseits durch eine ideelle oder sogar finanzielle Hilfe.

Dabei denke ich gerade in diesem Gottesdienst vor allem an unsere Sozialstation, die durch die Krankenpflegevereine unterstützt wird. Hier geschieht beispielhaft beides: alten, kranken oder pflegebedürftigen Menschen wird medizinisch geholfen, dadurch aber auch ihren Familien, weil die Patienten zu Hause gepflegt werden können. Andere helfen durch ihren finanziellen Beitrag mit, dass die Arbeit überhaupt noch im Rahmen der Kirchen geschehen kann. Und dieses Feld, sozialer, wie medizinischer Hilfestellungen dürfen wir nicht einfach aus der Hand geben, da es zum Gebot praktizierter Nächstenliebe gehört.

Zur Pflege eines Menschen gehört aber auch die Seel-Sorge dazu, alsoMenschen, die sich über eine gute medizinische Versorgung um die Seele eines anderen Menschen sorgen, vom ganzen Menschen ausgehen, den ganzen Menschen sehen. Die Seelsorge ist dabei nicht an ein Amt gebunden. Professionalität, dem Körper und Sensibilität seinem seelischen Empfinden gegenüber, kommen so zusammen und werden zu einer Einheit für den betroffenen Menschen. Hier, am alten, kranken, behinderten, auf welche Weise auch immer zu pflegenden Menschen muss unser Glaube erlebbar werden, damit er als christlicher Glaube, glaubwürdig bleiben kann.

Wie oft erlebe ich, dass ich nachts noch einmal nach einem Menschen schaue und dort den Mitarbeitern der Sozialstation oder denen unserer Alten- und Pflegeheime begegne, wie oft geschieht es, dass Ärzte und Pfarrer sich gemeinsam um einen Menschen mühen. Ich erlebe, dass jemand in der Nachbarschaft sich um einen anderen kümmert, ohne große Worte zu machen. Ohne haupt- und ehrenamtliches Engagement würde in unserer Gesellschaft vieles zusammenbrechen, was uns auch im Kern unseres Glaubens, im Kern unseres Menschseins berührt. Wer eine humane Gesellschaft will, wird sich selbst darum bemühen müssen, ob das nun eine menschenwürdige Pflege betrifft oder unser ehrenamtliches Engagement in Vereinen und Organisationen, Kirchengemeinden und Verbänden, Rettungsdiensten oder in politischen Partei en und Gremien. Das lehrt uns das Gleichnis Jesu.

Für wen gilt das Gebot: "Du wirst deinen Nächsten lieben, wie dich selbst ...?" Die Antwort gibt Jesus mit dem Gleichnis vom Barmherzigen Samariter und mit der Auflösung auf die scheinheilige Frage nach dem Nächsten. Der Nächste ist immer der, der sich selbst einem anderen Menschen zuwendet, solange dieser diese Zuwendung braucht. So wird die egoistische Frage nach mir und meinem Wohlergehen zur Frage nach dem Mitmenschen. Denn noch einmal: nicht wer liebt mich, sondern wen liebe ich; nicht wer ist mein Nächster, sondern wem werde ich selbst zum Nächsten?Die Antwort auf diese Frage löst viele Probleme menschlichen Miteinanders.

Wo wir diesem eigentlich selbstverständlichen Gebot der Menschlichkeit folgen, da verändert sich zwangsläufig das Zusammenleben der Menschen, ja sogar die Natur würde davon profitieren: die Amerikaner könnten einmal daran denken, dass die verschmutzte Luft auch andere Regionen der Welt außerhalb der USA schädigt und eine gewisse Rücksichtnahme auf die Natur fast gleichbedeutend ist, mit der Rücksicht auf die Gesundheit anderer Menschen. Israelis und Palästinenser lernten Rücksicht auf die Schwächen und Bedürfnisse des anderen zu nehmen und ein jeder würde sich darin überbieten, die Gebote seines Glaubens so zu leben, wie es dem Judentum und dem Islam geboten ist.

Und wir? Für uns wäre es ja wirklich leicht, einmal mit unserem Nachbarn zu reden, anstatt ihn wegen einer Nichtigkeit zu verklagen oder in der eigenen Familie für Frieden zu sorgen, auch wenn mir das Testament der Eltern nicht gefällt. Wir könnten lernen, nicht gleich verärgert aus der Kirche, dem Verein, der Partei, der Organisation auszutreten, nur, weil mich etwas stört. Ein jeder von uns wird gar nicht weit zu laufen haben, um (s)einen Nächsten zu finden. Das ist es, was uns Christen mit auf unseren Lebensweg gegeben ist: "Geh, und mach es ebenso, wie derjenige, der barmherzig war." Menschenwürdig leben, Menschen würdig pflegen: Das Jahr des Ehrenamtes bietet uns viele Gelegenheiten, einmal darüber nachzudenken, wo ein jeder von uns seinen Nächsten findet, der ihn braucht.
Amen.


Literatur:
  1. Badische Zeitung, 11. Juli 2001, USA tolerant, S. 2
  2. Luther, M., Evangelien-Auslegung Bd. 3, Hrsg. E. Mühlhaupt,
    Göttingen 19684, S. 138
  3. Burmeister, J., Qualifizierung für Ehrenamt und Freiwilligkeit,
    Robert Bosch Stiftung GmbH, Stuttgart 20002, S. 8
außerdem: Letzte Änderung: 16.07.2001
Pfr. Hanns-Heinrich Schneider