Evangelische Kirchengemeinde Kenzingen

19. Sonntag nach Trinitatis,
Johannes 5, 1-16
Visitationsgottesdienst

Begrüßung:

Liebe Gemeinde! Mit diesem Gottesdienst und der Gemeindeversammlung wird die Visitation unserer Gemeinde abgeschlossen. Wir haben Bilanz gezogen und den einen oder anderen Blick in die Zukunft unserer Gemeinde gewagt. In dem "Gesetz über die Ordnung der Visitation" heißt es: "Die Visitation soll die Gemeindeglieder ermutigen, die ihnen von Gott verliehenen Gaben zum Aufbau der Gemeinde einzusetzen ..." Ob eine Visitation das wirklich leisten kann, wird sich zeigen. Doch auf das Wort Gottes dürfen wir setzen, denn wir werden ermutigt, uns aufeinander zu und in die Welt hinein zu bewegen und damit etwas von dem Heil auch unter uns aufleuchten zu lassen, das der menschenfreundliche Gott für uns alle im Blick hat.

Gebet:

Guter Gott! Du erforschst uns und kennst uns, wir sind bei dir gut aufgehoben, Tag und Nacht. Sei uns ein freundlicher Gott, der uns begleitet, aber nicht bedrängt, der uns so sieht, wie wir sind, aber uns nicht bloßstellt, der zu uns spricht, uns aber nicht verhört.

Gott, wir sitzen oder liegen, so bist du bei uns. Begleite uns auf allen unseren Wegen, teile unsere Einsamkeit, nimm uns die Angst und bewege uns mit unserem Glauben, unserem Vertrauen dorthin, wo man uns als Christen in unserer Stadt braucht, in den beiden Kirchen, den Vereinen und Organisationen, Parteien und Verbänden, in der Wirtschaft und den Geschäften, den Schulen und dem Sport.

Gott, von allen Seiten umgibst du uns. Sei darum auch hier in unserer Mitte zu finden. Lass uns über dem, was dein Wort bewegen hilft, dankbar staunen - und ermutigt werden, zu einem selbstbewussten, offenen und fröhlichen Glauben. Das können wir nur durch dich und mit dir, unseren Herrn. Amen.

Text

Die Heilung am Teich Betesda

Bald darauf war ein jüdisches Fest, und Jesus ging hinauf nach Jerusalem. Am Schaftor in Jerusalem befindet sich ein Teich mit fünf offenen Hallen. Auf hebräisch wird er Betesda genannt. Eine große Anzahl von Kranken lag ständig in den Hallen: Blinde, Gelähmte und Menschen mit erstorbenen Gliedern, denn von Zeit zu Zeit kam ein Engel Gottes und brachte das Wasser in Bewegung. Wer als erster in das bewegte Wasser hineinging, wurde gesund, ganz gleich, welche Krankheit er hatte. Unter ihnen war auch ein Mann, der seit achtunddreißig Jahren krank war. Jesus sah ihn dort liegen. Er erkannte, dass der Mann schon lange unter seiner Krankheit litt, und fragte ihn: »Willst du gesund werden?« Der Kranke antwortete: »Herr, ich habe keinen, der mir in den Teich hilft, wenn das Wasser sich bewegt. Wenn ich es allein versuche, ist immer schon jemand vor mir da.« Jesus sagte zu ihm: »Steh auf, nimm deine Matte und geh!« Im selben Augenblick wurde der Mann gesund. Er nahm seine Matte und konnte wieder gehen. Der Tag, an dem dies geschah, war ein Sabbat.

Einige von den führenden Männern sagten deshalb zu dem Geheilten: »Heute ist Sabbat, da darfst du deine Matte nicht tragen!« Er antwortete: »Der Mann, der mich geheilt hat, sagte zu mir: 'Nimm deine Matte und geh!'« Da fragten sie ihn: »Wer ist es, der dir so etwas befohlen hat?« Aber er konnte keine Auskunft darüber geben; denn Jesus hatte den Ort wegen der vielen Menschen schon wieder verlassen. Später traf Jesus ihn im Tempel und sagte: »Hör zu! Du bist jetzt gesund. Tu nichts Unrechtes mehr, sonst wird es dir noch schlimmer ergehen.«

Der Geheilte ging fort und berichtete den führenden Männern, dass es Jesus war, der ihn gesund gemacht hatte. Da begannen sie, Jesus zu verfolgen, weil er an einem Sabbat geheilt hatte.


Liebe Gemeinde!

Erinnern Sie sich an folgende Geschichte von Till Eulenspiegel: Eulenspiegel im Krankenhaus!

Langsam ging er von Bett zu Bett und unterhielt sich mit den Leuten. Er sprach leise und sehr geheimnisvoll mit jedem von ihnen. Und einem jeden sagte er das gleiche. "Ich will euch helfen", sagte er, "dir, mein Freund, und den anderen auch. Und ich weiß ein fabelhaftes Rezept dafür. Ich muss einen von euch zu Pulver verbrennen. Dieses Pulver müsst ihr dann einnehmen. Ich habe mir auch schon überlegt, wen von euch ich zu Pulver verbrenne: Den Krankesten im Saal. Das wird das Beste sein, meinst du nicht auch?" Dann beugte er sich tiefer und fuhr noch leiser fort: "In einer halben Stunde hole ich den Verwalter, der wird die Gesunden unter euch fortschicken. Es wird gut sein, wenn du dich ein bisschen beeilst. Denn den Letzten verbrenne ich leider zu Pulver." So ging er von Bett zu Bett. Dann holte er den Verwalter herauf, der mit lauter Stimme rief: "Wer sich gesund fühlt, ist entlassen!"

In wenigen Minuten war der Saal leer! Alle rannten oder humpelten, so schnell sie nur konnten aus dem Krankenhaus heraus. Solche Angst hatten sie. Der Verwalter war sprachlos. Er raste in sein Büro und brachte Eulenspiegel 220 Gulden. Die steckte er ihm zu und sagte: "Zwanzig gebe ich ihnen extra. Sie sind der beste Arzt der Welt." "Stimmt", sagte Eulenspiegel. Damit meinte er den Geldbetrag. [1]

Wenn das mit der Krankheit und dem Gesundwerden nur so einfach wäre, unsere Gesundheitsministerin und die Krankenkassen würden sich freuen. Doch wir wissen, so geht es nur in Geschichten von Till Eulenspiegel oder in Märchen. Unser Text dagegen betrifft uns selbst viel mehr, als wir es ahnen, es ist ein bewegender Text. Till Eulenspiegel bewegt letztendlich nichts, denn seine Kranken werden zurückkommen und immer noch krank sein.

Wieder einmal feiert man ein Fest des Glaubens in Jerusalem. Touristen und Pilger wandern zum Tempel hinauf, sie alle sind froh gestimmt, singen, beten und feiern, dazwischen bieten Händler ihre Opfertiere an, um die lautstark gefeilscht wird. Der Trubel gehört zum Jubel. Alle fühlen sich im Glauben verbunden und ihrem Gott nah. Doch da ist am Rande der Stadt ein anderer Ort: stiller, beklemmender, eine Art Langzeitkrankenhaus für Blinde, Krüppel und Gelähmte mit nur geringer Hoffnung auf Heilung: Betesda. Es wird erzählt, dass von Zeit zu Zeit, wenn - wie durch eine unsichtbare Engelshand - das Wasser des Teiches sich bewegt, der Erste von ihnen, der es ins Wasser schafft, gesund wird. So liegt man da und wartet darauf, dass das Wasser sich wieder einmal bewegt, immer in der Hoffnung, dass man es beim nächsten Mal schaffen wird, hineinzukommen, um endlich geheilt zu werden.

Und plötzlich ist da einer, vermutlich ein Pilger, der einen dieser hoffnungslos Kranken anspricht: "Willst du gesund werden?" Was soll man auf eine solche Frage antworten? Wer will denn nicht gesund, jung und stark sein? Und nun bricht die ganze Lebenstrauer, die Einsamkeit, die Hoffnungslosigkeit aus dem Kranken heraus: "Herr, ich habe keinen, der mir in das Wasser hilft, um gesund zu werden ..." Auf das Wort Jesu hin: "steh auf!", wird er augenblicklich gesund, seit achtunddreißig Jahren kann er sich endlich wieder bewegen, gehen. Wo Bewegung Freiheit schafft, sprechen wir von einem Wunder und so hat es der Kranke selbst ja auch empfunden.

Natürlich verwundert es uns, wenn etwas in unser Leben hineinbricht, das wir mit unserem Verstand nicht fassen können. Zu einem Wunder gehören offensichtlich Menschen, manchmal sprechen wir dann auch von einem Engel. Entscheidender ist aber in unserem Text das ermutigende Wort Jesu.

Woran der Kranke, dort am Teich Betesda neben seiner körperlichen Erkrankung leidet, ist seine Einsamkeit, das Alleingelassensein in seiner existentiellen Not. Wie viele Menschen leiden heute darunter, dass es keinen gibt, der zuhört, der weiterhilft, der ins Leben hinein bewegt? Es ist bezeichnend, dass wir in unserer Gesellschaft ausgebildete Profis brauchen, die dafür bezahlt werden, zuzuhören. Dabei weiß jeder, der sich da auskennt, wie gerade hier Wunder geschehen können, so dass Menschen gesund werden. Sie bewegen sich zurück in ihr Leben, trotz dessen, dass sie vorher durch ihre verletzenden Lebensumstände, die Isolation, Sprachlosigkeit, Depression oder Trauer wie gelähmt schienen. In der Nachfolge Jesu dürfen wir uns einmal fragen: welcher Engel und welches Wort uns bewegt, und: wem werde ich selbst mit meiner Nähe und einem guten Wort zu einem Engel?

Wir haben jetzt unsere Gemeindevisitation erlebt, nach Gruppen und Kreisen gefragt, den Aktivitäten in unserer Gemeinde, nach haupt-, ehren- und nebenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, nach jenen, die der Kirche fernstehen. Vielleicht spüren wir ja hier und da, welch eine geistliche Kraft gerade auch von unseren Gottesdiensten ausgeht: von einer Taufe, einer Trauung, einer Konfirmation, einer Beerdigung. Kann es denn nicht die Gemeinde selbst sein, die durch ihren Glauben einem bedrängten Menschen zum Engel, modern gesprochen können wir vielleicht auch sagen, zu einem Seelsorger wird, zu jemandem, der sich um einen anderen bemüht? Genau das tut Jesus in unserer Geschichte. Er wendet sich dem Menschen zu, und holt ihn aus seinen festlegenden, oft krankhaften Bindungen heraus.

Der Rest unseres Textes ist eigentlich eine andere Geschichte. Es zeigt sich nämlich, dass die scheinbar Gesunden, auf ihre Weise behindert und krank sind. Die Gesetzestreuen ärgern sich, dass Jesus an einem Feiertag einen Menschen heilt, ihn in Bewegung setzt, damit er ebenfalls im Tempel Gott loben und danken kann. Das Sabbatgesetz ist gebrochen, man verbündet sich gegen diesen Jesus, der es wagt, sich die Freiheit zu nehmen, den Menschen über das Gesetz zu stellen.

Die Feiertagsheiligung steht hier für alles, was nicht verändert werden darf, für das Altbewährte und Bestehende, wo sich eben nichts bewegen soll. Das aber ist eine gesetzliche Fehleinschätzung der Liebe Gottes zu seinem bedrängten Menschen. Jesu Vergehen ist, dass er sich sogar an diesem Tag auf die Seite eines Ausgesperrten stellt, er bewegt, in dem er ein beispielhaftes Zeichen für seinen väterlich-mütterlichen Gott setzt, das auch uns anspricht. Wo sonst sollten wir Gott finden, als in den Tiefen unsres Lebens und Heil erfahren, durch seine Zuwendung oder durch die jener, die er bewegt. Das ist sogar am Feiertag möglich und dort, wo Gott besonders zu Hause ist: in der Mitte seiner Gemeinde.

Einander so zu begegnen wäre eine Zielvereinbarung für unsere Visitation, die unserer Kirche würdig ist, ansonsten wären wir wohl oft genug auch nur einem Till Eulenspiegel vergleichbar mit seinem Mummenschanz. Gott bewege uns auch weiterhin aufeinander zu und schenke, dass wir auch in unserer Mitte durch das Wort und den Geist Jesu etwas bewegen und so einander zu Boten Gottes werden. Amen.


Literatur:

  1. Kästner, E., Till Eulenspiegel, © Atrium Verlag, Zürich

    Lachenmann, H., Calwer Predigthilfen, 2000/2001, Reihe V/2, Stuttgart 2001, S.184

    Kautzsch, A., Deutsches Pfarrerblatt, Heft 9/2001,

    Groth, F., Die Predigtdatenbank

Letzte Änderung: 05.11.2001
Pfr. Hanns-Heinrich Schneider