Evangelische Kirchengemeinde Kenzingen

6. Sonntag nach Trinitatis, 22.7.2001
Jesaja 43, 1-7

Begrüßung:

Liebe Gemeinde! Manchmal ist es gut, ein Wort der Stärkung, der Ermutigung zu hören. Auf all jene, die sich stark, kräftig, gesund, erfolgreich oder glücklich fühlen, wird es ebenso hilfreich wirken, wie auf all jene, denen es nicht so gut geht, die sich krank, angeschlagen, in Frage gestellt sehen, denen das Glück fehlt und die Zukunft verdunkelt scheint. Wir brauchen, ein jeder von uns auf seine Weise, angesichts der Herausforderungen, die das Leben mit sich bringt, immer wieder einmal ein gutes Wort. Heute dürfen wir es über diesen Tag hinaus für unser Leben hören.

Fürchte dich nicht, ich befreie dich! Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du gehörst mir!

Gebet:

Herr, guter Gott! Da sind wir nun in diesem Gottesdienst mit unserem ganzen Alltag, mit dem, was uns freut, glücklich macht, gelingt, so erfolgreich sein lässt, doch auch mit all jenem, was uns Leid zufügt, traurig macht, in unseren Möglichkeiten behindert und begrenzt und uns oft im Leben stört. So darf ein jeder von uns hören: "Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du gehörst nun zu mir ..."

Tröstende, bergende Wärme spricht aus diesen Worten, wenn meine eigenen Erfahrungen mich ratlos machen. Vieles geschieht, wovor ich mich fürchten könnte, dennoch darf ich glauben, dass du mir in meinem Leben entgegenkommst durch jesus Christus. Amen.

Text:

Jetzt aber sagt der Herr dich ins Leben gerufen hat, Volk Israel, du Nachkommenschaft Jakobs: »Fürchte dich nicht, ich befreie dich! Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du gehörst mir! Musst du durchs Wasser gehen, so bin ich bei dir; auch in reißenden Strömen wirst du nicht ertrinken. Musst du durchs Feuer gehen, so bleibst du unversehrt; keine Flamme wird dir etwas anhaben können. Denn ich bin der Herr, dein Gott; ich, der heilige Gott Israels, bin dein Retter. Ich gebe Ägypten für dich als Lösegeld, den Sudan und Äthiopien noch dazu. Völker gebe ich für dich hin, ja die ganze Welt, weil du mir so viel wert bist und ich dich liebe. Fürchte dich nicht, denn ich bin bei dir! Von dort, wo die Sonne aufgeht, hole ich dich zurück; von dort, wo sie untergeht, bringe ich die Zerstreuten meines Volkes zusammen. Zum Norden sage ich: `Gib sie heraus!’ und zum Süden: `Halte sie nicht zurück!’ Zu den Enden der Erde sage ich: `Laßt meine Söhne und Töchter aus der Fremde heimkehren! Alle sollen zurückkehren, die ich zu meiner Ehre geschaffen und ins Leben gerufen, über denen der Name des Herrn ausgerufen ist.’

Jesaja 43, 1-7


Liebe Gemeinde!

Es war einmal! Mit diesen Worten beginnen Märchen. Wer liebt sie nicht, die guten alten Märchen der Gebrüder Grimm, und wer kennt es nicht, das Märchen vom Rumpelstilzchen? Ein kleines Männlein drischt einer armen Müllerstochter Stroh zu Gold, weil es der König so will, der ihr darüber die Ehe verspricht. Doch bei jedem Besuch möchte das Männlein etwas Neues von der jungen Frau bekommen, bis er schließlich deren erstes Kind verlangt, wenn dies zur Welt kommt. Es sei denn, sie wisse vorher seinen Namen. Natürlich erfährt die junge Königen schließlich den Namen, als der Kleine im Kreis auf einem Bein herumtanzend fröhlich singt: "Ach wie gut, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß!" Beim nächsten Besuch nennt sie ihm seinen Namen "Rumpelstilzchen", der Bann ist gebrochen, Rumpelstilzchen verschwindet wütend, mit dem Fuß aufstampfend, in einer Erdspalte.

Es gehört zur Kulturgeschichte des Menschen, dass jeder Mensch seinen eigenen unverwechselbaren Namen bekommt. Wer den Namen eines anderen kennt, kann Kontakt mit jenem aufnehmen, eine Freundschaft anfangen, lieben. Wer den Namen eines anderen kennt, kann aber auch streiten, anklagen. Über unsere Namen sind wir einander bekannt, vielleicht sogar vertraut, auch wenn sie heute auf verschiedenen Ämtern und bei Versicherungen durch Nummern ersetzt werden. Die Nummer gehört unaustauschbar zu einem Namen dazu, zu einem Menschen mit einem ganz bestimmten eigenen Gesicht und Körper, einer ganz konkreten Geschichte.

Das altbekannte Wort aus dem Propheten Jesaja spricht ein Namenloser, seine Worte hören wir - wie Israel damals im Exil - noch heute, doch wir kennen ihn nicht, wir haben kein weiteres Bild von ihm, außer, dass er uns ein Wort seines Gottes zusagt, dass durch die Zeit hindurch gehört wurde und gehört wird. Es ist in eine dunkle Zeit hinein gesprochen worden. Israel ist deportiert, verschleppt, erniedrigt, als Volk in Frage gestellt, jeden Tag neu ringt man um Fassung, fragt danach, wo denn hier eigentlich der Gott Israels sei?

Wir hören dieses leidvolle Klagen ja aus dem 137. Psalm heraus, wo es heißt: An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion (Jerusalem) dachten. Unsere Instrumente hängten wir an die Pappeln dort, denn unsere Entführer wollten Lieder von uns hören, unsere Peiniger befahlen uns, froh zu sein und Lieder vom Zion zu singen. Wie aber können wir des Herrn Lieder singen in Feindesland? ...

Quälend ist der Gedanke, ob man sich denn des eigenen Gottes noch sicher sein kann, wenn doch Jerusalem vor Jahren bereits erobert und der Tempel, der Ort der geglaubten Gegenwart Gottes, längst zerstört war? Hatten denn nicht die Götter der Feinde gesiegt? In eine solch depressive Stimmung hinein wird dieses Wort gesagt, das ja auch uns vielfach von den Taufen unserer Kinder über deren Konfirmation, die Trauung, bis hin zu Beerdigungen durch unser eigenes Leben begleitet und das unserer Familien: »Fürchte dich nicht, ich befreie dich! Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du gehörst mir! Gerade in dieser existentiellen Notlage erfährt Israel die unvorstellbare, grenzensprengende Weite und Tiefe seines Gottes, die bis an das Ende der Welt reicht, sogar die Himmelsrichtungen, Wasser und Feuer einschließt. Es ist ein Wort, das sich bald erfüllt hat. Babel selbst wurde von Kyros erobert, Israel durfte mit neuer Hoffnung aus der Fremde, der Gefangenschaft, in die Heimat heimkehren.

Dieses Gotteswort wurde zu einem Wort, das Menschen auf unterschiedlichste Weise durch ihr Leben begleitet hat, gerade auch dann, wenn man sich selbst in seinem Leben gefährdet und bedroht sah. Es ist ein Wort, mit dem die unbekannte, offene und unbegreifliche Zukunft angegangen werden konnte; ein Wort zum Festhalten in spannungsreicher Zeit; ein Wort zum Nachdenken und Zusprechen. So wurde es im Laufe der Zeit zu jenem Wort, dass so viele Menschen durch ihr eigenes Leben begleitet hat. Und wer von uns würde es sich gerade angesichts einer offenen Zukunft und großer Erwartungen, wie aber auch in den Tiefen des Lebens nicht gern ebenso tröstend, wie hoffnungsvoll zusprechen lassen:

Fürchte dich nicht!
Gott sagt dieses Wort durch einen Propheten. Bedrängte, Verfolgte, vielfach Entwurzelte, heimatlose Menschen hören dieses Wort. Furcht gehört zu ihrem Leben: die Angst davor, die Gegenwart nicht mehr meistern zu können, die Zukunft nicht in den Griff zu bekommen. Das kennen wir: Viele von uns fürchten sich ebenfalls, haben angst bei der Bewältigung ihres eigenen Lebens, ihrer Zukunft. Man hat den Tod erlebt, die Bedrohung, die von ihm ausgeht, all das, was uns fürchterlich fremd ist und uns nun ungewiss in unsere eigene Zukunft leben lässt. Das Schweigen des Todes macht uns ratlos, oft fehlen uns Worte, die uns angemessen erscheinen, trösten, Perspektiven für ein sinnvolles Weiterleben eröffnen. Oder:

Uns wurde ein Kind in unsere Familien hinein geschenkt, neues Leben in einer alten Welt. Was wird die Zukunft bringen, wo wird dieses junge Leben gefährdet sein, an die Grenzen kommen, Resignation, ja vielleicht sogar selbst Hoffnungslosigkeit erfahren müssen, ohne dass wir, die Eltern, Großeltern, Paten und Freunde etwas tun könnten? Erfahren wir nicht gerade am Anfang und am Ende eines Lebens in ganz besonderer Weise das Rätselhafte, Unfassliche unserer einmaligen Existenz? Hier dürfen wir dieses Wort hören: "Fürchte dich nicht!", das weitergeht mit dem Zusatz: "Ich befreie dich (ich habe dich erlöst), ich habe dich bei deinem Namen gerufen ...!"

Erlösung, Befreiung, religiöse Begriffe, die heute nur noch schwer zu verstehen sind. Aber wir ahnen wohl, dass sie etwas mit dem Loslösen zu tun haben, Bindungen aufheben, die zwanghaft sind und unfrei machen. Der Mensch, der hier seinen Gott hört, darf sich frei fühlen von bedrohlichen Göttern und Götzen, von unangemessener, menschenfeindlicher Fremdbestimmung, gerade weil er sich bei seinem Namen angesprochen hört. Ich selbst darf wissen, dass ich der von Gott Gemeinte bin. Daher gibt es ja im jüdisch-christlichen Glauben auch keine Vorstellung von einer Widergeburt in einem anderen Menschen, weil ich dann nicht mehr ich wäre, sondern in unterschiedlichen Existenzen aufgeteilt.

Doch ich werde von Gott bei meinem und nicht etwa bei irgendeinem Namen gerufen. Unverwechselbar bin ich für diesen Gott, der mir so väterlich und mütterlich nahe ist, wie mein leiblicher Vater, meine leibliche Mutter. Wer würde schon sein Kind verwechseln, es austauschbar machen? Erinnern wir uns an den König Salomo, der in dem Streit zweier Frauen um ein Kind zu urteilen hat (1. Könige 3, 16-28) oder an Bert Brechts kaukasischen Kreidekreis. In beiden Fällen wird die richtige Mutter schnell herausgefunden, als das Leben des eigenen Kindes durch die Richter bedroht wird. Die Frau dagegen, die sich nur als Mutter ausgegeben hat, wird als egoistisch und betrügerisch entlarvt und bestraft.

Es ist der Gott, auf dessen Namen und in dessen Auftrag wir einmal getauft wurden, und es ist wieder der Gott, dem selbst auf dem Friedhof das letzte Wort zu meinem Leben gehört. Auf diesem Hintergrund hören wir den dritten Grund unserer Hoffnung:

Du gehörst mir!
Doch wem gehört ein Mensch? Arbeiten wir denn nicht alle daran, "frei" zu sein? Wer liebt es schon, gebunden, oft mit sehr fraglichen Bindungen leben zu müssen. Wir haben es hier mit dem Bild einer tiefen Liebesbeziehung zu tun. Kaum je im Leben wird eine Bindung so akzeptiert, wie in einer Ehe, die wir frei und ohne jedes Gefühl von Zwang eingehen. Nur hier sind wir dazu bereit. Heute ist sie aber oft dadurch bedroht, dass wir diese selbstgewählte Bindung, die ein Ausdruck meiner eigenen Freiheit ist, schließlich als bedrängend empfinden, als eine Behinderung meines Way of Life, meines Lebensentwurfes.

Wie steht es um den modernen Menschen und sein Gottesbild? Kommt uns Gott hier nicht gefährlich nahe, wenn wir sein: "Du gehörst mir", hören? Wie verhalten wir uns zu einem solchen Anspruch? Diese Frage steht bei jeder Taufe für uns im Raum, denn, wenn wir ein Kind taufen lassen, dann sagen wir ja als Eltern, stellvertretend zunächst unser Ja dazu. Wir sind gefragt, wie es um unsere Glaubwürdigkeit steht, wie wir unseren Kindern den Glauben an diesen Gott vermitteln, so dass es dann auch im Laufe des Lebens ein ganz persönlicher Gott für sie werden kann? Das heißt durchaus, dass sich Gott uns auch einmal zumutet, ob wir es wollen oder nicht.

Die Frage nach Gott steht aber auch im Raum, wenn wir auf dem Friedhof von einem uns vertrauten Menschen Abschied nehmen. Was glauben wir denn angesichts des Todes, worauf vertrauen wir angesichts eines Grabes?

Ungeachtet unserer Lebensentwürfe, unserer Erwartungen an unser Leben und unserer eigenen Erfahrungen dürfen wir dieses Wort als ein persönliches Wort an uns selbst hören. Gott meint es nicht einengend, sondern fürsorglich. Gerade im Bild der Liebe zweier Menschen zueinander, in der Liebe von Eltern zu ihren Kindern, dürfen wir die Liebe Gottes zu seinem Menschen, zu uns, sehen. So, wie wir Menschen uns lieben können, so liebt Gott uns! So, wie wir zu dem gehören, den wir lieben, so auch zu Gott. Sein Ja zu uns - und das werden wir jeden Tag unseres Lebens neu zu hören und in Glaube umzusetzen haben - fordert unserer Ja zu ihm heraus. Obgleich, der zwingenden Logik nach, eigentlich kein Mensch Gott gegenüber wirklich frei sein kann, wenn wir Gott letztendlich als Gott und nicht als etwas Beliebiges glauben oder mit uns selbst verwechseln, sind wir es in unserer Entscheidung, unserem Ja oder Nein, unserem Glauben oder Unglauben dennoch.

So tragen wir die Verantwortung für das, was wir glauben und wie wir dies in unsere Lebenswirklichkeit übertragen. Wir werden dieses Wort als Ausdruck einer tiefen Beziehung hören dürfen, dass Gott zu uns steht. Keinen Ort der Welt wird es geben können - und das war für Israel die befreiende Botschaft in den tiefsten Tiefen seiner Existenz - wo es sich von seinem Gott verlassen fühlen müsste. Das ist das Wort, das wir heute als ein Wort an uns selbst hören dürfen, denn wir sind gemeint, wir dürfen es für uns selbst hören und ein Leben lang gelten lassen: "Fürchte dich nicht, ich befreie dich! Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du gehörst mir ..."
Amen.


Literatur:

Letzte Änderung: 30.08.2001
Pfr. Hanns-Heinrich Schneider