Evangelische Kirchengemeinde Kenzingen

Altjahrsabend 2001, Hebräer 13, 8-9b

Begrüßung:

Liebe Gemeinde! Der Altjahrsabend liegt auf der Schwelle von einem Jahr zum anderen. Irgendwie stehen wir noch mit unseren Gedanken und Gefühlen dazwischen. Viele von uns werden zurückdenken und sich fragen, was das vergangene Jahr brachte, was lohnens- oder dankenswert war, was es an Höhen oder Tiefen zu erleben oder zu durchleiden gab. Zugleich machen wir uns Gedanken über die Zukunft, die heute so offen und unbekannt vor uns liegt. Wir gehen in sie hinein, von vielen guten Wüschen und mancherlei Hoffnungen begleitet. Die Psychologie kennt den Begriff der "Schwellenangst", wenn wir aus einer Situation in eine andere wechseln müssen und uns der erste Schritt schwer fällt. Das ist für manche von uns gerade heute die Situation, deshalb feiern wir diesen Gottesdienst, um zur Ruhe zu kommen, uns zu besinnen und Gott Lob und Dank zu sagen. Ich aber, Herr, hoffe auf dich, du bist mein Gott (Ps.31,15).

Gebet:

Herr, guter Gott! Wir denken zurück an das, was mit dem vergehenden Jahr hinter uns liegt. Wir erinnern uns dankbar an das, was uns geschenkt wurde, sind traurig über das, was wir verloren haben. Manchmal haben wir dich in unserem Leben vermisst, manchmal gesucht, und dann bist du uns hier und da begegnet, ohne dass wir damit gerechnet haben. Wir bedenken, was die Zukunft, das neue Jahr bringen wird, Hoffnungen und Wünsche begleiten uns, aber auch die Sorge, dass wir scheitern, die uns gesetzten Ziele nicht erreichen könnten.

Herr, guter Gott! Wir danken dir für alle Begleitung unseres Lebens, für alle Menschen, die unser Leben geteilt haben und teilen, für die Gemeinschaft aller, mit denen wir in unserem Glauben, unserer Gemeinde und Kirche vereint sind. Wir danken dir für das gute Zusammenleben mit unseren katholischen Mitchristen.

Herr, wir bitten dich um die Zukunft unseres Lebens und aller, die uns nahe stehen. Wir denken an ein jedes Kind, das uns geboren werden wird und einen jeden Menschen von dem wir Abschied nehmen müssen. Gehe du mit uns in das kommende Jahr, lass uns unseren Glauben glaubwürdig leben lernen, und schenke allen Menschen weltweit über die Grenzen der Religionen, Konfessionen und Kulturen hinweg deinen Frieden. Amen.

Text:

Jesus Christus ist derselbe gestern und heute und für alle Zeiten! Lasst euch nicht durch alle möglichen fremden Lehren verführen. Gottes Gnade wird euch innerlich fest machen.

Liebe Gemeinde!

Schaut man sich die unterschiedlichsten Bilanzen des vergangenen Jahres einmal an, so ist ein Ereignis augenfällig, das Attentat in New York und Washington vom 11. September. Ja, dieser Tag ist zu einem Begriff geworden, vergleichbar vielleicht dem 8. Mai 1945, dem Tag der Kapitulation, - der Währungsreform von 1948, bei der am 20. Juni die erste DM ausgezahlt wurde, - dem 17. Juni 1953, dem Arbeiteraufstand in der DDR, - dem Mauerbau in Berlin am 13. August 1961 - oder dem 9. November 1989, dem Fall der Berliner Mauer, welche die Wiedervereinigung ermöglichte. Daten im Leben, die sich eingeprägt haben, wie der Geburts- oder Todestag eines vertrauten Menschen.

Wer in den Altjahrsabendgottesdienst geht, möchte vor dem Lärm der Nacht noch einmal zur Ruhe kommen, das vergangene Jahr für sich selbst bilanzieren: was gab es da an Höhen oder Tiefen, an Gelingen oder Misslingen, was hat sich in unserem Bewusstsein eingegraben, wie der Tod eines uns bekannten, vielleicht geliebten Menschen, die Schwangerschaft und Geburt eines Kindes im Familien- oder Freundeskreis, das Zerbrechen einer Beziehung? Wie stand es um den Beruf, die Arbeit, wie um Gesundheit oder verminderte Zukunftsperspektiven für mich selbst oder Mitmenschen, die mir wichtig sind? Vieles bewegt uns, was uns verständlich und klar scheint, anderes, was uns verschlossen, verdunkelt oder unverständlich ist.

Eine weitere tief in unser Leben eingreifende Zäsur ist die Einführung des EURO nach den vielen Jahrzehnten einer stabilen D-Mark. Ab morgen früh werden wir eine neue Währung, anderes, uns noch fremdes Geld im Portmonee haben. Ein stärker zusammenwachsendes Europa wird greifbarer, doch einkaufen müssen wir ja in der Nachbarschaft beim Bäcker, Edeka oder Aldi.

Und in all dieses Nachsinnen vergangener Zeit oder dem Andenken dessen, was wohl die Zukunft bringen wird, hören wir dieses steile Wort aus dem Hebräerbrief:

Jesus Christus ist derselbe gestern und heute und für alle Zeiten! Lasst euch nicht durch alle möglichen fremden Lehren verführen. Gottes Gnade wird euch innerlich fest machen ...
Dieser kleine Text ist wie der überproportional ausgestreckte Zeigefinger von Johannes auf Grünewalds Isenheimer Altar im Unterlinden Museum in Colmar. Eindrucksvoll verweist dieser Jünger Jesu auf den Gekreuzigten, der für ihn mehr werden und sein wird, als ein Toter unter den vielen Toten dieser Welt. Sein Finger kann schier nicht lang genug sein, um darauf hinzudeuten. Oder erinnern wir uns noch einmal an ein Wort Karl Barths, das er nur wenige Wochen vor seinem Tode sagte:
"Das letzte Wort, das ich als Theologe und auch als Politiker zu sagen habe, ist nicht ein Begriff wie `Gnade’, sondern es ist ein Name: Jesus Christus. Er ist die Gnade, und er ist das Letzte, jenseits von Welt und Kirche und auch von Theologie ... Um was ich mich in meinem langen Leben bemüht habe, war in zunehmendem Maße, diesen Namen hervorzuheben und zu sagen: dort! ... Dort ist auch der Antrieb zur Arbeit, zum Kampf, auch der Antrieb zur Gemeinschaft, zum Mitmenschen. Dort ist alles, was ich in meinem Leben in Schwachheit und Torheit probiert habe. Aber dort ist’s ..." [1]
Beispiele, die deutlich machen, wie herausgehoben dieser eine Name für Christen weltweit ist. Im Hebräerbrief werden Menschen angesprochen, die sich in ihrem Glauben hinterfragt sehen, der sich, wie jeder Glaube im Alltag zu bewähren hat. Doch da sind die vielen anderen Religionen, Strömungen und Richtungen, die alles in Frage stellen, woran man selbst glaubt. So muss sich jeder immer wieder, täglich neu, seines geistlichen Zentrums erinnern, nämlich daran, dass Jesus Christus, gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit, die Grundlage des eigenen Glaubens ist und damit auch des persönlichen Bekenntnisses in Wort und Tat. Die Gemeinde soll sich jederzeit darin bestärken lassen, so dass man der Auseinandersetzung mit der Umwelt und deren Überzeugungen standhalten kann.

Wir können gerade jetzt in einer bekannten Wochenzeitschrift unter der Überschrift "Der Glaube der Ungläubigen" lesen: "Der New Yorker Terrorangriff der islamischen Fundamentalisten zielte auch auf das liberale Credo des Abendlandes ..." Weiter wird in diesem Artikel kritisch gefragt: "Was also haben wir denn überhaupt zu verteidigen, wenn `unser Modell` derart fragwürdig ist? Was sind jene Werte der westlichen Zivilisation, der die islamistischen Terroristen den Krieg erklärt haben? Es blieb dem britisch-indischen Schriftsteller und Muslim Salman Rushdie ... vorbehalten, eine Antwort zu geben: `Der Fundamentalist glaubt, dass wir an nichts glauben ... Um ihn zu widerlegen, müssen wir wissen, dass er irrt. Also kommt es darauf an, was für uns zählt.’... Was ist den Menschen zwischen Athen und Lissabon, Berlin und New York wichtig, außer Arbeit und Brot, Genuss und Komfort? Die Demokratie, gewiss. Aber dann? Kommt dann Gott? Welcher Gott? ..." [2]

Kurz gesagt: es geht darum, uns durch die Auseinandersetzung mit Andersdenkenden, anderen Religionen und Kulturen unserer eigenen Wurzeln ganz neu zu besinnen und den Mut aufzubringen, dieser Auseinandersetzung mit Glaube und Bekenntnis zu begegnen. Nur wer eigene Glaubensüberzeugungen vertreten kann, wird sich angstfrei in einen derartigen Disput hineinwagen können. Unser Way of Life stellt unseren Glauben, wie unser Bekenntnis in Frage. Die tradierten Werte der westlichen Welt sind längst hinter ganz andere Fragen zurückgetreten. Der Markt der Meinungen wird von Coca Cola, DaimlerChrysler, Microsoft, der Börse, den weltweiten Medien, den Mitgliedern der modernen Spaßgesellschaft angeführt.

Es geht um das Mehrhaben wollen: mehr Geld, mehr Macht, mehr Einfluss, und was wir darüber verlieren, ist kostbare Lebenszeit und die Besinnung auf das Wesentliche, Bedeutsame. Jesus Christus kommt in einem solchen Denken nicht vor, der Glaube hat sich in einer resignierenden Meinungsvielfalt verloren. Das ist die neue "Time is money"-Religion. Dabei sind unzählige dieser gestressten Macher Christen, wie wir. Derartig in den eigenen Werthaltungen und Orientierungen in Frage gestellt, sehen wir uns von verblendeten Terroristen geistig und geistlich herausgefordert.

Sie bringen uns dazu, wieder einmal - fast gezwungenermaßen - über unsere eigenen Wurzeln nachzudenken, danach zu fragen, was denn nun eigentlich für mein Leben existentiell wichtig und entscheidend ist?

Dem Verfasser des Hebräerbriefes ist klar, dass es nicht einfach sein wird, einen gekreuzigten Gott zu bekennen, das war damals so, das ist heute für uns nicht anders. Darum ist ihm wichtig, seine Hörer zu ermutigen, ihren Glauben zu stärken, ihn fest zu machen an diesem Namen, der einmal am Anfang ihres Weges als Christen stand: Jesus Christus. Wie ein Leitfaden soll dieser Name das Leben begleiten uns stärken und schützen, uns unsere tradierten, aber eben auch bewährten Werte vor Augen halten.

Namen sind wichtig, mit ihnen verbinden wir ein Gegenüber, einen anderen Menschen, der auf seine Weise lebt: ein Gesicht, Augen, Nase, Mund und Ohren hat, einen Körper, der groß oder eher klein ist, dünn oder dick. Da hören wir eine Stimme, wir sehen einen Blick. Selbst wenn dieser Mensch dann einmal nicht mein Gegenüber ist, weiß ich unverwechselbar, von wem geredet wird. Eltern geben sich sehr viel Mühe ihren Kindern den richtigen Namen mitzugeben. Sie fragen nach der Bedeutung eines Namens und was sich mit diesem für die Zukunft ihres Kindes als Wunsch, als Programm, als Zukunftsperspektive aussagen lässt. Gleiches gilt für uns Christen. Denn bei jeder Taufe wird uns mit unserem eigenen Namen auch der Name mitgegeben, auf den wir getauft werden: Jesus Christus. Auch dieser Name steht für Erwartungen, er steht für einen tragfähigen Glauben, der in die Welt hineingelebt werden soll und mir versichert, dass ich in meinem Glauben geborgen bin.

Heute gilt es ganz neu, für unser Leben und Zusammenleben zu entdecken, dass unsere Freiheit gerade darin besteht, unserem persönlichen Glauben Leben zu schenken. Worte des Glaubens dürfen nicht mehr in einem so eklatanten Widerspruch zur Tat stehen, wie wir es einerseits global, andererseits bis in unsere Familien und die Arbeitswelt hinein erleben. Die weltweite Vernetzung des Menschen durch seine Arbeit, sein Freizeitverhalten und die vielfältigen neuen Kommunikationswege ermöglichen es, im Kontakt mit anderen Religionen und Kulturen deutlich zu machen, wofür wir Christen eigentlich einstehen und woran wir glauben. Wir geben der christlichen Ethik ihr Gesicht, oder wir zerstören es, deformieren es zu einer Fratze.

Das alte Jahr geht seinem Ende zu, was wird das neue Jahr 2002 für uns und unsere Familien, für unsere Welt bringen? Wir wissen es natürlich nicht, aber dennoch dürfen wir darauf vertrauen, dass auch im kommenden Jahr dieser eine Name mit uns gehen wird: Jesus Christus, gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit. Nehmen wir ihn mit in die vor uns liegende Zeit unseres Lebens. Leben wir mit diesem einen und besonderen Namen unseres Glaubens und bekennen wir ihn in unsere Zeit und Welt hinein, dann wird unsere Zukunft von Gott begleitet sein und zum inneren wie äußeren Frieden unter uns Menschen beitragen.

Ich wünsche uns allen ein gesegnetes neues Jahr, und so Gott will, mag es hier und da ein glückliches werden, damit wir das zu tragen vermögen, was uns auch an Schattenhaftem begleiten wird. Es gilt: Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist mit uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag. [3]
Amen.


Literatur:

  1. Busch, E., Karl Barth’s Lebenslauf, München 19762, S. 514
  2. DER SPIEGEL, 52/2001, Die unverschleierte Würde des Westens, S. 50ff
  3. Bonhoeffer, D., Von guten Mächten ..., EG 65,7

    außerdem:

    Frank, D., Calwer Predigthilfen 2001/2001, Reihe VI/1, Stuttgart 2001, S. 69ff

    De Estrada, L., in: http://www.dike.de/dike/servlet/www/dike/predigten/index.xml

Letzte Änderung: 16.01.2002
Pfr. Hanns-Heinrich Schneider