Evangelische Kirchengemeinde Kenzingen

14. Sonntag nach Trinitatis, 16.9.2001
1. Mose 28, 10-19a

Begrüßung:

Liebe Gemeinde!
Oft sprechen Bilder aus Träumen in einer ganz besonderen Weise. Jakobs Traum, ein Brückenschlag: von Gott in die Welt, aus der Gegenwart in die Zukunft, aus brüderlicher Schuldverstrickung hin zur Vergebung, aus einer Flucht wird ein Weg. Träume begleiten uns in vielfacher Weise, sie helfen uns, das Leben zu deuten.

Hochhäuser versinken in Schutt und Asche. Verzweifelte Menschen stürzen sich aus schwindelnder Höhe in den Tod, Unschuldige werden Opfer terroristischer Gewalt. Eine Weltmacht erlebt die schwärzeste Stunde ihrer Geschichte. Symbole ihrer Macht versinken im Nichts (Landesbischof Dr. U. Fischer). Lassen wir es zu, dass dort, wo unser Schweigen angemessen wäre, Gott zu uns spricht und wir zusammen Worte des Glaubens finden und Gedanken des Friedens gegen den Hass in der Welt. Dennoch bleibe ich stets bei dir; denn du hältst mich an meiner rechten Hand, du leitest mich nach deinem Rat und nimmst mich endlich in Ehren an.

Gebet:

Wir beten mit dem 124. Psalm:

Unsere Hilfe kommt von Gott!

Hätte der Herr uns nicht beigestanden - so soll das Volk Israel bekennen -, ja, hätte der Herr uns nicht beigestanden, immer wenn Menschen uns überfielen und ihre Wut an uns auslassen wollten - wir wären schon längst von der Erde verschwunden. Die Fluten hätten uns überrollt, das schäumende Wasser hätte uns gepackt, der Sturzbach uns mit sich fortgerissen.

Der Herr sei gepriesen! Er hat uns nicht den Feinden überlassen als Beute für ihre Zähne. Wir sind entkommen wie ein Vogel aus dem Netz des Fängers; das Netz ist zerrissen, und wir sind frei!

Unsere Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde geschaffen hat; er ist für uns da!

Text:

Jakob machte sich auf den Weg von Beerscheba nach Haran. Er kam an einen Platz und übernachtete dort, weil die Sonne gerade untergegangen war. Hinter seinen Kopf legte er einen der großen Steine, die dort umherlagen. Während er schlief, sah er im Traum eine breite Treppe, die von der Erde bis zum Himmel reichte. Engel stiegen auf ihr zum Himmel hinauf, andere kamen zur Erde herunter. Der HERR selbst stand ganz dicht bei Jakob und sagte zu ihm: »Ich bin der HERR, der Gott deiner Vorfahren Abraham und Isaak. Das Land, auf dem du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben. Sie werden so unzählbar sein wie der Staub auf der Erde und sich nach allen Seiten ausbreiten, nach West und Ost, nach Nord und Süd. Am Verhalten zu dir und deinen Nachkommen wird sich für alle Menschen Glück und Segen entscheiden. Ich werde dir beistehen. Ich beschütze dich, wo du auch hingehst, und bringe dich wieder in dieses Land zurück. Ich lasse dich nicht im Stich und tue alles, was ich dir versprochen habe.«

Jakob erwachte aus dem Schlaf und rief: »Wahrhaftig, der HERR ist an diesem Ort, und ich wusste es nicht!« Er war ganz erschrocken und sagte: »Man muss sich dieser Stätte in Ehrfurcht nähern. Hier ist wirklich das Haus Gottes, das Tor des Himmels!«

Früh am Morgen stand Jakob auf. Den Stein, den er hinter seinen Kopf gelegt hatte, stellte er als Steinmal auf und goss Öl darüber, um ihn zu weihen. Er nannte die Stätte Bet-El (Haus Gottes).

1. Mose 28, 10-19a


Liebe Gemeinde!

Das ist eine Geschichte, wie aus dem Leben gegriffen! Zwei Brüder, zwei Rivalen, jeder will der Erste sein. Sie ringen um die Gunst der Eltern, so wird der eine zum Liebling des Vaters, der andere ein Muttersohn. Das ist keine Geschichte allein aus grauer Vorzeit, sondern sie setzt sich im Leben vieler Menschen fort, bis hinein in die Machtkämpfe um die erste Position in der Klasse, dem Freundeskreis, oder um einen Studien-, einen Arbeitsplatz zu erhalten. Schauen wir uns Deutschlands Autofahrer an, so erleben wir das Jagen nach dem vordersten Platz, das zur Schaustellen der eigenen Stärke - und sei es nur unter der Motorhaube - am laufenden Band.

Der Kampf wird hart und unerbittlich, bis hin zum Betrug geführt: Jakob erschleicht sich den väterlichen Segen, doch er muss fliehen. Es wird ein langer Weg, an dessen Anfang der Traum eines offenen Himmels steht und am Ende der Kampf am Jabok, aus dem er sich nur noch angeschlagen herausretten kann. Doch als er geht, geht ihm, so verwundet er auch ist, hinkend die Sonne auf. Er kann sich mit seinem Bruder versöhnen, ihn um Vergebung bitten.

Jakob träumt! Kann es einen schöneren Traum geben, als den Himmel offen zu sehen und Gott von Angesicht zu Angesicht? Nicht Jakob, nicht einmal im Traum steigt er Gott entgegen, sondern Gott selbst stellt sich ihm in den Lebensweg. Und Jakob hört, wovon er hellwach in seiner Situation nie zu träumen gewagt hätte: Der Gott seiner Väterwird mit ihm und seinen Nachkommen sein, ja er geht von nun an, trotz aller Schuld und allen Versagens, als ein zwar angeschlagener, aber eben doch als ein von seinem Gott gesegneter und begleiteter Mensch durchs Leben.

In unseren Träumen erleben wir eine andere Wirklichkeit. Wir schlafen und arbeiten träumend unsere Tageserlebnisse auf. Oder wir sind wach und träumen von einer anderen Gegenwart oder Zukunft. Wer denkt da nicht an Martin Luther King und seine berühmte Rede, die er mit den Worten eröffnete: "Ich habe einen Traum." Es ist unser Recht zu träumen, denn nur allzu oft sind sie ja mit unseren Lebenszielen identisch. Für eine lange Zeit unseres Lebens arbeiten wir uns auf diesen oder jenen Traum hin, er steht vor uns und zieht uns mit in die Zukunft hinein. Wer von uns hätte nie einen solchen Traum gehabt?

Diese Leiter oder Treppe in Jakobs Traum erinnert mich an die kleine Geschichte, die wir in die ökumenischen Schulanfängergottesdienste der vergangenen Woche einbrachten:

"Du hast einen schönen Beruf", sagte das Kind zu dem alten Brückenbauer. "Es muss sehr schwer sein, Brücken zu bauen?" "Wenn man es gelernt hat, ist es leicht", sagte der alte Brückenbauer. "Es ist leicht, Brücken aus Beton oder Stahl zu bauen. Die anderen Brücken sind sehr viel schwieriger", sagte er, "die baue ich in meinen Träumen." "Welche anderen Brücken?" fragte das Kind. Der alte Brückenbauer sah das Kind nachdenklich an. Er wusste nicht, ob es ihn verstehen würde. Dann sagte er: "Ich möchte eine Brücke bauen von der Gegenwart in die Zukunft. Ich möchte eine Brücke bauen von einem Menschen zum anderen. Eine Brücke von der Dunkelheit ins Licht. Eine Brücke von der Traurigkeit in die Freude. Ich möchte eine Brücke bauen von der Zeit in die Ewigkeit - über alles Vergängliche hinweg.

Das Kind hatte aufmerksam zugehört. Es hatte nicht alles verstanden, spürte aber, dass der alte Brückenbauer traurig war. Weil es ihn wieder froh machen wollte, sagte das Kind: "Ich schenke dir meine Brücke." Und das Kind malte für den alten Brückenbauer - einen Regenbogen.

So, wie sich in Jakobs Traum der Himmel mit der Welt verbindet, sich Gott seinem Menschen gegenüberstellt, eben so geschieht es in dem Traum des alten Brückenbauers. Er träumt sich einer anderen Zukunft entgegen. Und nur durch seinen Traum kann er sich einer solchen Zukunft entgegenleben. Das ist keine Illusion, auch keine Weltflucht, solange wir an unseren Träumen arbeiten. Eine Illusion bleibt jeder Traum, wenn wir die Hände in den Schoß legen und nichts tun, nach dem Motto: Gott wird es schon richten, oder resignierender: das ist ja ohnehin alles Schicksal.

Es kommt, wie es kommen muss, Jakob erwacht, die raue Wirklichkeit seines Lebens hat ihn wieder - und, ob sein Traum je Wirklichkeit werden wird, das steht noch dahin, das muss sein Leben zeigen. Seine erste Reaktion ist Entsetzen, denn wie könnte ein Mensch anders reagieren, wenn sich ihm Gott in den Weg hineinstellt? Jakob spürt das Besondere, das Heilige, das ihm im Traum widerfahren ist. Gott hat seinen Fluchtweg durchkreuzt, so dass nun aus der Flucht vor dem Bruder und seiner eigenen Vergangenheit ein Weg in die Zukunft werden kann. Ein Traum verändert das Leben. Manche von uns werden das auf je eigene Weise erfahren haben.

Dieser Text spielt in meiner Biografie eine kleine Rolle, denn über diesen Text predigte ich vor 6 Jahren, als ich hier in dieser Kirche eingeführt wurde. 6 Jahre Pfarrer in einer Gemeinde das bedeutet, eingebunden in den Kreis aller Mitarbeiter: 6 Jahre Gottesdienste, Taufen, Abendmahlsfeiern und Trauungen, Religions- und Kon-firmandenunterricht, Seelsorge, Sterbebegleitung und Beerdigungen, Gemeindefeste, Veranstaltungen, Sitzungen, Freude und Sorgen, Anteilnehmen und Anteilgeben. Damals sagte ich:

"Ich träume von einer Christengemeinde, die nicht resigniert, die sich nicht kleinmütig zurückhält, nur weil ihr einmal der Wind entgegenbläst. Ich träume von einer Gemeinde, die füreinander einsteht und für alle Fremden, die ihr anbefohlen sind. Ich träume von katholischen und evangelischen Christen in dieser Stadt, für die die gegenseitigen Vorurteile Vergangenheit sind und die nun miteinander für ihren gemeinsamen Glauben in der Welt, der hier bei uns in Kenzingen beginnt, einstehen. Ich träume von einer Gemeinde, die sich auf ihre Gottesdienste freut und damit auf neue und vielleicht immer wieder einmal andere Erfahrungen - von Ermutigung oder Trost, Perspektiven von Hoffnung für das eigene Leben oder begründetem Dank ... Ich träume von lebendigen Gruppen und Kreisen, in denen es immer wieder einmal um Gott, aber auch um die Welt geht. So träume ich davon, dass es hier und da möglich sein wird - mitten im Alltag - etwas davon aufleuchten zu lassen, dass Gott bei uns ist und mit uns geht ..."

Sicher, wir sind noch nicht am Ziel, mein Traum bleibt, er ist noch nicht zu Ende geträumt oder gar bis ins Letzte hinein Wirklichkeit geworden, und doch: Ich habe erfahren, wie sehr wir miteinander unterwegs sein konnten, wie sehr sich viele in unserer Gemeinde dafür einsetzen, dass durch einen gelebten und erlebbaren Glauben Brücken geschlagen werden und ein wenig Himmel schon jetzt auf der Erde erfahrbar wird.

Ganz sicher immer noch ein wenig stolpernd, hinkend und stotternd, aber sollten wir schon jetzt mehr erwarten können? Gott schenkt uns ja Zeit füreinander, er schenkt dieser Gemeinde und unserer Kirche Zeit, um unseren Glauben zu leben, ihn auch anderen Menschen erfahrbar zu machen, Brücken zu bauen von der Kirchenferne vielleicht sogar in die Nähe Gottes hinein. Liebe Gemeinde: wir dürfen weiter träumen ...

Jakob lässt sich durch sein Entsetzen nicht entmutigen. Er baut Gott einen Altar, worauf sich im Laufe der Geschichte Israels ein ganzes Heiligtum aufbaute: Bet-El, d.h.,Haus Gottes.

Liebe Gemeinde, genau an dieser Stelle meiner Predigtvorbereitung rief mich ganz aufgeregt ein Kirchengemeinderat an, um mich auf das Attentat in den USA aufmerksam zu machen. Es verschlägt einem die Sprache, wenn man bedenkt, in was für einer barbarischen Weise Menschen sich aneinander schuldig machen können und sich vom blanken Hass leiten lassen. Dennoch: Gerade im Chaos, in der Tiefe seines Lebens erfährt Jakob (s)einen Gott, der von sich aus eine Brücke zu diesem schuldiggewordenen Menschen schlägt und ihm damit eine Zukunft schenkt.

Gebe Gott, dass in diesem unendlichen Leid, das durch die unsäglichen Attentate über unschuldige Menschen gekommen ist, Brücken geschlagen werden: Gott selbst erfahrbar bleibt und zu Gehör kommt, - den entsetzt Sprachlosen und Traurigen nahe ist, - die Verletzten wieder gesund werden lässt, - den Verstorbenen gnädig ist, - den Politikern bei ihren Reaktionen Weisheit gibt und jeden Gedanken an Rache im Keim erstickt, - den Attentätern, weltweit und wo immer sie sich aufhalten, die Einsicht schenkt, dass Gewalt nur Gegengewalt erzeugt, aber keinen Frieden schafft.

Uns alle ermutige ich dazu, keine Angst zu haben, Sorgen vielleicht, aber eben keine Angst, sondern darauf zu vertrauen, dass unser aller Leben und diese Welt mit Gott rechnen kann. Beten wir auch über alle konfessionellen Grenzen hinweg für diejenigen, die sich schuldig gemacht haben, weil unsere Gebete gedanklich Brücken schlagen werden, zu Gott, zu unseren Mitmenschen, zu Menschen, die sich so unendlich radikal ins Unrecht setzten. Der christliche Glaube erinnert uns im Zeichen des Kreuzes daran, dass Gott selbst uns gerade im Leid und in den Tiefen dieser Welt nahe ist. Möge er es bei allen Menschen sein, bei jenen, die der Hass leitet, bei allen, die unter Gewalt zu leiden haben, vor allem aber bei allen, die an ihrenGott glauben, ihm die Zukunft dieser Welt anvertrauen. Möge es allen Menschen geschenkt sein, durch ihren jeweiligen Glauben zu zeigen, was uns im Geist beherrscht und wie wir unseren Glauben leben.

Lassen Sie uns ein wenig träumen, vielleicht sogar von Gott, der sich auch uns gegenüberstellt und so die Ferne des Himmels überbrücken hilft. Wo diese Brücke gebaut ist, werden wir die anderen Brücken, die die Welt verändern, verbinden helfen, sicher irgendwann auch einmal bauen können. In seiner Presserklärung zum Terroranschlag in den USA schreibt unser Landesbischof am Schluss: "Wir beten zu Gott um Frieden für die Opfer und um Trost für ihre Angehörigen, um Umkehr für die fanatischen Täter, um Besonnenheit für die verantwortlichen Politiker. Wir beten zu Gott - und schweigen." [1]
Amen.

Schlussgebet:

Herr, unser Gott! Dir danken wir für dein gutes Wort, das uns nachdenklich macht, Mut schenkt, miteinander und über viele Unterscheidungen hinweg verbindet. Verbinde dich mit uns und lass auch uns von deiner Gegenwart in unserem Leben träumen, damit wir in eine versöhnte Zukunft hinein leben dürfen.

Wir denken an alle Menschen in der Welt, die unter dem Terror anderer, Unrecht und Gewalt zu leiden haben. In unseren Gedanken schlagen wir eine Brücke aus diesem Gottesdienst hinüber zu den Menschen auf der Welt, die der Friedlosigkeit und dem Hass anderer ausgesetzt sind und beten gemeinsam:

O Herr, mach mich zum Werkzeug deines Friedens,
dass ich liebe, wo man hasst;
dass ich verzeihe, wo man beleidigt;
dass ich verbinde, wo Streit ist;
dass ich die Wahrheit sage, wo Irrtum ist;
dass ich Glauben bringe, wo Zweifel droht;
dass ich Hoffnung wecke, wo Verzweiflung quält;
dass ich Licht anzünde, wo Finsternis regiert;
dass ich Freude bringe, wo Kummer wohnt.

Herr, lass mich trachten,
nicht, dass ich getröstet werde, sondern dass ich tröste;
nicht, dass ich verstanden werde, sondern dass ich verstehe;
nicht, dass ich geliebt werde, sondern dass ich liebe.
Denn wer sich hingibt, der empfängt;
Wer sich selbst vergisst, der findet;
Wer verzeiht, dem wird verziehen;
Und wer stirbt, der erwacht zum ewigen Leben.
Amen.


Literatur:

  1. Presserklärung des Landesbischofs, Terroranschlag in den USA, in: http://www.ekiba.de/index.htm

    Grusnick, W., Calwer Predigthilfen, 200/2001, Reihe V/2, Stuttgart 2001, S. 145f

    Hombeck, D., Deutsches Pfarrerblatt, Heft 8/2001, 14. Sonntag nach Trinitatis

    Drewermann, E., Ich lasse dich nicht, Du segnest mich denn, Düsseldorf 1994, S, 239ff

    Schneider, H.-H., Predigt zur Einführung, September 1995 (unveröffentlicht)

Letzte Änderung: 17.09.2001
Pfr. Hanns-Heinrich Schneider