Septuagesimae, Matthäus 9, 9-13

 

 

Begrüßung:

 

Liebe Gemeinde! Ist es für die Kirche eine verbotene Frage: Wer gehört zu uns, wer nicht? Ja, kann eine Kirche für jeden Menschen Kirche sein, muss sie es wollen und kann sie es überhaupt leisten? Mit diesem Gottesdienst werden wir an die Frage nach unserem Selbstverständnis heran geführt, eine Frage, die uns ja nicht nur heute etwas angeht und angehen muss, sondern die Zukunft der Kirche in den Blick nimmt.

 

Herr, du wirst mir dein Erbarmen nicht entziehen und deine Güte und Treue werden mich stets bewahren.

 

 

 

Gebet:

 

Herr, guter Gott! Es war immer schwer, den Glauben an Dich in der Welt zu bezeugen, dein Sohn wurde dafür ans Kreuz geschlagen, wie die Märtyrer der Kirche für ihn gelitten haben. Niemand von uns muss wegen seines Glaubens leiden, aber dennoch stehen wir vor ganz neuen Fragen, wenn wir an die Gegenwart und Zukunft der Kirche denken. Was gilt in ihr, was muss gesagt und getan werden, um den Glauben recht zu verkündigen und zu leben? Herr, wie können wir unsere Kirche zukunftsfähig machen, wo sind uns Grenzen gesetzt und wo müssen wir sie überwinden? Schon das zu erkennen ist alles viel zu viel für uns.

 

So lass uns zu einer glaubwürdigen Kirche werden, die offen ist für neue Wege und dennoch um notwendige Grenzen weiß, die es einzuhalten gibt, weil der Glaube sonst in Frage steht. Lass uns dein Wort: „Komm, folge mir nach!“ als eine ganz persönliche Einladung hören, denn wo das geschieht, werden wir als Christen in der Welt leben und so auch glaubwürdig erfahren werden. Amen.

 

 

Jesus ging weiter und sah einen Zolleinnehmer an der Zollstelle sitzen. Er hieß Matthäus. Jesus sagte zu ihm: »Komm, folge mir!« Und Matthäus stand auf und folgte ihm. Als Jesus dann zu Hause zu Tisch saß, kamen viele Zolleinnehmer und andere, die einen ebenso schlechten Ruf hatten, um mit ihm und seinen Jüngern zu essen. Die Pharisäer sahen es und fragten die Jünger: »Wie kann euer Lehrer sich mit Zolleinnehmern und ähnlichem Volk an einen Tisch setzen?« Jesus hörte es und antwortete: »Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken! Überlegt doch einmal, was es bedeutet, wenn Gott sagt: 'Ich fordere von euch nicht, dass ihr mir irgendwelche Opfer bringt, sondern dass ihr barmherzig seid.' Ich bin nicht gekommen, solche Menschen in Gottes neue Welt einzuladen, bei denen alles in Ordnung ist, sondern solche, die Gott den Rücken gekehrt haben.«

 

 

 


Liebe Gemeinde!

 

Für wen ist die Kirche da? Für wen sind wir da, wenn wir heute noch angemessen Kirche sein wollen? Es wäre jetzt einfach mit stolzgeschwellter Brust herauszuposaunen, dass wir natürlich für alle Menschen da sein wollen, mit denen wir unseren kleinen, ganz konkreten Lebensraum teilen. Aber machen wir es uns da nicht doch zu einfach? Denn wie sieht das aus mit all den Schmuddelkindern äußerlicher, aber auch geistiger oder geistlicher Art, mit denen wir uns hier und da konfrontiert sehen? Nein, wir wollen sie weder bei uns am Mittagstisch sitzen haben, noch neben uns auf der Kirchenbank. „Grau, treuer Freund, ist alle Theorie!“ [1], heißt es in Goethes Faust und das wusste natürlich auch Jesus schon.

 

Oder umgekehrt, muss ich nun selbst zum gesellschaftlich-religiösen Schmuddelkind werden, um in den Augen Jesu bestehen zu können? Wie immer wir das Verhalten Jesu sehen, es provoziert. Es provozierte damals die rechtschaffend Frommen, sein Verhalten provoziert – wo wir uns überhaupt darauf einlassen – auch uns. Wenn wir uns heute in unserer volkskirchlichen Gemeinde zu den Normalbürgern zählen, die nicht zu oft Strafzettel im Straßenverkehr kassieren, ihre Steuern ordentlich zahlen und hier und da sogar bereit sind, Blut zu spenden oder einer karitativen Organisation eine Spende zu geben, dann sind ja wir es, die sich von Jesus ausgegrenzt fühlen müssen, sagt er doch: „Die Gesunden brauchen keinen Arzt, sondern die Kranken...“ Aber wer von uns möchte schon gern krank sein, nur um die Zuwendung Jesu zu erfahren?

 

Auch in dieser Begebenheit, wird Jesus letztendlich falsch verstanden. Sicher, er wendet sich diesem unmöglichen Zöllner zu, einem Verräter am eigenen Glauben, am eigenen Volk. Ein Zöllner ist ein Kollaborateur, der mit den Römern paktiert und sich dadurch an der Unterdrückung des Volkes beteiligt und bereichert. Er ist wie ein kleiner Nazi, der seine Nachbarn verrät, weil sie den Feindsender abgehört haben oder wie ein unbedeutender Stasi-Mann in der untergegangenen DDR. Natürlich hat der nie etwas Unrechtes getan, nur eben hier und da einmal über einen ungeliebten Kollegen oder Mitarbeiter den falschen Leuten etwas zugetragen und geplaudert. Einem solchen Mann sagt Jesus: „Komm, folge mir nach!“ und schlimmer noch, er geht zusammen mit ihm in dessen Haus und isst mit ihm und dessen Freunden. Das muss ja bei allen religiös und politisch korrekten Beobachtern Fragen aufwerfen.

 

Und so kommt es zu diesem Dialog mit Jesus inmitten dieser Außenseiterschar, seinen Freunden und seinen ernstzunehmenden Gegnern, die ihn nicht verstehen können. Sie hinterfragen sein Tun aus einer tiefen Sorge heraus um den Glauben an den Gott ihrer Väter und Mütter.

 

Jesus reagiert: Nachdrücklich macht er mit dem Beispiel des `Arztes´ und des `Kranken´ deutlich, wie er seinen Dienst versteht, für wen er vor allem da sein möchte. Doch wer ist er, dass er so reden und handeln darf und woher nimmt er diese Autorität, ja den Mut, das Gesetz und die Ordnungen des Glaubens so mit der Barmherzigkeit zu konfrontieren? Dabei steht nicht erst seit heute die Frage im Raum, wer in dem Beispiel Jesu zu den Gesunden oder den Kranken gehört? Zu jenen, die sich vom Wort Gottes noch ansprechen lassen, weil sie glauben, es wie eine innere Gesundheitsvorsorge nötig zu haben oder meinen, so gesund zu sein, dass das eben nicht nötig ist.

Dabei fühlen wir uns oft kerngesund und merken eine Krankheit erst, wenn es für eine Heilung zu spät ist. Jesus selbst verwehrt ja niemandem, sich ihm an die Seite zu stellen, ihm nachzufolgen, doch seine Kritiker sind es, die sich selbst ausgrenzen und mit ihm nichts zu tun haben wollen.

 

Wir alle haben es mitbekommen: Die Evangelische Kirche in Deutschland fragt nach ihrem Weg in die Zukunft. Dies ist eine gute protestantische Tradition. Angesichts des Geburtenrückgangs in unserer Gesellschaft muss man sich ja fragen, wo wird die Kirche im Jahr 2030 stehen und was wird sie noch leisten können? Weniger Menschen in Deutschland bedeutet auch weniger evangelische Christen und weniger evangelische Christen ist gleichzusetzen mit weniger Kirchensteuern. Was dann aber tun mit den Kindergärten in kirchlicher Hand, den Ausbildungsstellen an Fach- und Hochschulen für Erzieherinnen und Religionslehrer, was geschieht mit ausgedünnten Gemeinden, die es traditionell gewohnt waren, ihren eigenen Pfarrer zu haben? Die Kirche wird Gemeinden wie Mitarbeiter reduzieren müssen, nicht etwa weil die Menschen ihre Kirche verlassen, sondern ganz einfach, weil es in Deutschland immer weniger Menschen gibt. Außerdem wird sie Antworten suchen müssen auf völlig veränderte Arbeits- und Lebensbedingungen in unserer Gesellschaft.

 

In einem Impulspapier „Kirche der Freiheit - Perspektiven für die Evangelische Kirche im 21. Jahrhundert“ versucht die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) unter Federführung von Bischof Wolfgang Huber eine Antwort. So wird in dieser Schrift ausgeführt: „Es gehört zum Selbstverständnis reformatorischer Kirchen, Kurskorrekturen durch theologische Reflexion und innerkirchlichen Diskurs zu steuern. Dabei ist es unerlässlich, sich über Wesen und Auftrag der Kirche zu verständigen. Was sind ihre zentralen Aufgaben und welche Ausrichtung ist ihr von der biblischen Botschaft her aufgegeben? Die folgenden vier biblisch geprägten Grundannahmen sind für die hier vorgelegten Überlegungen leitend:

 

1. Geistliche Profilierung statt undeutlicher Aktivität. Wo evangelisch draufsteht, muss Evangelium erfahrbar sein. 2. Schwerpunktsetzung statt Vollständigkeit. Kirchliches Wirken muss nicht überall vorhanden sein, wohl aber überall sichtbar. 3. Beweglichkeit in den Formen statt Klammern an Strukturen. Nicht überall muss um des gemeinsamen Zieles willen alles auf dieselbe Weise geschehen; vielmehr kann dasselbe Ziel auch auf verschiedene Weise erreicht werden. Und 4. Außenorientierung statt Selbstgenügsamkeit. Auch der Fremde soll Gottes Güte erfahren können, auch der Ferne gehört zu Christus...“ [2] Mit einer Vision, die in zwölf so genannten „Leuchtfeuern“ entfaltet wird, versucht sich die Kirche den Herausforderungen zu stellen und das anzudenken, was für die Zukunft an Veränderungen nötig sein wird.

 

Jesus sagt: „Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken... Ich bin nicht gekommen, solche Menschen in Gottes neue Welt einzuladen, bei denen alles in Ordnung ist, sondern solche, die Gott den Rücken gekehrt haben.“

 

Was heißt das für unsere Kirche, für unsere Gemeinde? Noch einmal, es heißt nicht, dass wir uns nun nicht mehr um die Kerngemeinde zu bekümmern hätten, ganz im Gegenteil, doch von ihr wird erwartet, dass sie sich ihre Wege in die Kirche und ihre gottesdienstliche Gemeinschaft sucht, andere dagegen können das gar nicht und darum müssen wir ihnen entgegengehen, sie einladen, so, wie Jesus es tat. Und das eben auch dann, wenn sie uns zunächst noch als sehr fremd erscheinen.

In verschiedenen Analysen über die beiden Volkskirchen untersuchte man die Frage nach den unterschiedlichen Milieus, die unsere Gesellschaft prägen. Und da wird sehr deutlich, dass keine Kirche, ja überhaupt keine religiöse Gruppierung alle Milieus ansprechen und abdecken kann, sondern immer nur einige. Und eben hier stellt sich die Frage, wie unsere Kirchen auf all jene zugehen können, denen sie fremd geworden ist und was gehört auch künftig zu den unaufgebbaren Aufgaben der Kirche Jesu Christi und einer Christengemeinde? Da geht es dann nicht mehr um das eine oder andere Event, poppige Gottesdienste oder die Fixierung auf eine Altersgruppe in der Gemeinde, da geht es um mehr und anderes.

 

Am Beispiel Jesu wird die Seelsorge einen ganz hohen Stellenwert behalten, weil in ihr unsere Barmherzigkeit spürbar wird oder versagt bleibt. Christen müssen offen sein, für all jene, die an den Schwellen ihres Lebens Mitchristen an ihrer Seite brauchen, bis hin zu den verschiedensten Gottesdiensten (Kasualien), die den Lebenslauf bei Taufen, zum Schulbeginn, der Konfirmation, einer kirchlichen Trauung, bei Jubiläen, der Beerdigung, aber eben vielleicht auch bei einer Ehescheidung begleiten. Der Gottesdienst braucht keine anderen und vor allem nicht immer neue Formen, sondern er muss inhaltlich, wie in Sprache und Form stimmen: Hier müssen das Wort Gottes und das Leben zusammen kommen und eine Gemeinschaft erfahrbar sein, die etwas aufleuchten und spüren lässt von der Liebe Gottes zu uns allen.

 

Darüber hinaus werden wir zu lernen haben, dass nicht jede Gemeinde alles machen muss, es wird zu Aufgabenteilungen zwischen Gemeinden, Regionen und ihren MitarbeiterInnen kommen. Das kann unter anderem in der Frage deutlich werden, wie wir in unseren Gemeinden unseren Glauben, Kunst und Kultur zusammen bringen – und wie weit wir da gehen dürfen, denn wer oder was setzt uns da die Grenzen? An Jesus schieden sich die Geister, denn so wie er sich einerseits Menschen in einer unnachahmlichen Weise zuwendet, so grenzt er auch aus, er unterscheidet und trennt, so dass es eben nicht jeder ist, der ihm nachfolgen kann. So bleibt auch das für die Kirchen eine notwendige Anfrage, denn es müssen schließlich und endlich auch durch sie in den gesellschaftlichen Fragen und Strukturen der Gegenwart Grenzen aufgezeigt und wo nötig gesetzt werden?

 

Jesus besucht das Haus des Matthäus und isst mit ihm und seinen Freunden. Ein denkbarer Hinweis darauf, dass Jesus nun nicht mehr an das einmal im Jahr zu feiernde Passahmahl denkt, sondern zu einem grenzensprengenden Gemeinschaftsmahl einlädt. In dieser Tischgemeinschaft soll niemand mehr ausgeschlossen sein, weil der Glaube geteilt und Gott gegenwärtig ist. Hier haben wir gerade nicht nach dem Glauben anderer zu fragen, sondern selbst glaubwürdig zu sein, so glaubwürdig, dass, wenn schon nicht jeder, so doch viele Menschen sich eingeladen fühlen. Aber ehrlich: Sind wir schon so weit, wenn wir uns in unseren Kirchen und Gemeinden umschauen? Lassen wir selbst uns also immer wieder neu zum Glauben einladen, denn dann werden wir uns über die Zukunft der Kirche keine Sorgen machen müssen. Amen.

 

 

 

 

Literatur:

 

1) Friedrich, Th., Hrsg., Goethes Werke, III. Band, Faust, Leipzig, S. 66

2) Kirchenamt der EKD, Kirche der Freiheit –

    Perspektiven für die Evangelische Kirche im 21. Jahrhundert, in: www.ekd.de

 

 

Drewermann, E., Das Matthäusevangelium, Zweiter Teil, Düsseldorf, 1994

Obert, A., Zugang für alle, in: Zeitschrift für Gottesdienst & Predigt (ZGP) 1/2007, Gütersloh, S. 52

Dahlgrün, C., Septuagesimae, Calwer Predigthilfen, 2000/2001, Reihe V/1,

Stuttgart, 2000, S. 122

 

 

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