13. Sonntag nach Trinitatis, 1. Mose 4,1-16

 

 

 

Begrüßung:

 

Liebe Gemeinde! Kain, „wo ist dein Bruder Abel?“, dies ist eine Ur-Frage nach unserem Menschsein, wie würden wir da wohl antworten? Kain sagt: „Was weiß ich? ... Bin ich vielleicht der Hüter meines Bruders?“ Ist es nicht so, dass gerade weil wir uns nicht mehr füreinander verantwortlich fühlen, die Welt so im Argen liegt? Wir müssen keinen Menschen mehr erschlagen, um ihn zu töten, da reichen schon die Lüge und ein paar Halbwahrheiten. Lassen wir uns daher heute dazu einladen, unserer gottgewollten Menschlichkeit nachzuspüren, einer Menschlichkeit, in der der Glaube, die Hoffnung und die Liebe gelebt werden.

 

„Liebe den Herrn, deinen Gott, von ganzem Herzen, mit ganzem Willen und mit aller deiner Kraft und deinem ganzen Verstand! Und: Liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst!“ Jesus sagte: „Handle so, dann wirst du leben.“ (Lukas10, 27+28)

 

 

 

Gebet:

 

Dein Tag, Herr, guter Gott, soll mein Tag sein, ein Tag der Ruhe, der Besinnung, ein Tag der Lebensfreude, ein Tag, Menschen anders als im Alltag zu begegnen. Lass uns aufatmen mit allen, die sich zu dir bekennen und unseren Glauben feiern mit allen, die aus deinem Geist heraus leben wollen. Lass uns das Leben teilen mit allen, die uns in den Lebensweg hinein gestellt sind, damit keiner sich mehr herausreden kann, wenn er nach seinem Menschenbruder gefragt ist. Amen.


 

Adam schlief mit seiner Frau Eva, und sie wurde schwanger. Sie brachte einen Sohn zur Welt und sagte: »Mit Hilfe des Herrn habe ich einen Mann hervorgebracht.« Darum nannte sie ihn Kain. Später bekam sie einen zweiten Sohn, den nannte sie Abel. Abel wurde ein Hirt, Kain ein Bauer.

 

Einmal brachte Kain von seinem Ernteertrag dem Herrn ein Opfer. Auch Abel brachte ihm ein Opfer; er nahm dafür die Besten von den erstgeborenen Lämmern seiner Herde. Der Herr blickte freundlich auf Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer schaute er nicht an. Da stieg der Zorn in Kain hoch, und er blickte finster zu Boden. Der Herr fragte ihn: »Warum bist du so zornig? Warum starrst du auf den Boden? Wenn du Gutes im Sinn hast, kannst du den Kopf frei erheben; aber wenn du Böses planst, lauert die Sünde vor der Tür deines Herzens und will dich verschlingen. Du musst Herr über sie sein!«

 

Kain aber sagte zu seinem Bruder Abel: »Komm und sieh dir einmal meine Felder an!« Und als sie draußen waren, fiel er über seinen Bruder her und schlug ihn tot. Der Herr fragte Kain: »Wo ist dein Bruder Abel?« »Was weiß ich?« antwortete Kain. »Bin ich vielleicht der Hüter meines Bruders?« »Was hast du getan?« sagte der Herr. »Hörst du nicht, wie das Blut deines Bruders von der Erde zu mir schreit? Du hast den Acker mit dem Blut deines Bruders getränkt, deshalb stehst du unter einem Fluch und musst das fruchtbare Ackerland verlassen. Wenn du künftig den Acker bearbeitest, wird er dir den Ertrag verweigern. Als heimatloser Flüchtling musst du auf der Erde umherirren.«

 

Kain sagte zum Herrn: »Die Strafe ist zu hart, das überlebe ich nicht! Du vertreibst mich vom fruchtbaren Land und aus deiner schützenden Nähe. Als heimatloser Flüchtling muss ich umherirren. Ich bin vogelfrei, jeder kann mich ungestraft töten.« Der Herr antwortete: »Nein, sondern ich bestimme: Wenn dich einer tötet, müssen dafür sieben Menschen aus seiner Familie sterben.« Und er machte an Kain ein Zeichen, damit jeder wusste: Kain steht unter dem Schutz des Herrn. Dann musste Kain aus der Nähe des Herrn weggehen. Er wohnte östlich von Eden im Land Nod.

 

 


Liebe Gemeinde!

 

Es gibt wohl kaum jemanden, der diese biblische Geschichte nicht kennt. Zu voll ist die Welt von Brudermorden, die sich nach und nach zu Morden jeder Art ausweiteten. Dabei haben auch wir alle die Frage im Ohr: „Wo ist dein Bruder Abel?“ und die Antwort: „Was weiß ich, bin ich vielleicht der Hüter meines Bruders?“ Es ist schlichtweg die Ur-Frage an den Menschen und an sein Menschsein, sowie die entsprechende Antwort darauf.

 

Wo immer wir leben, nehmen wir auch am Leben anderer Anteil. Jeder Mensch lebt ja auf seine Mitmenschen bezogen. Er lebt unausweichlich, in dem er anderen Menschen begegnet. Es gehört zur Geschöpflichkeit des Menschen, dass er Augen, Ohren und einen Mund, dass er Hände und Füße hat. Das alles dient zur Begegnung, zum Umgang der Menschen miteinander: Einander zu sehen, aufeinander zu hören, zusammen zu reden, aufeinander zuzugehen und sich die Hand geben zu können. Es sind die „Grundform der Menschlichkeit“ [1], an die wir jeden Augenblick erinnert werden, wenn uns im Gegenüber ein  anderer Mensch begegnet.

 

Schon wenige Seiten zuvor schildert die Bibel, dass Gott den Menschen erschafft. Wie auch immer wir uns naturwissenschaftlich die Entstehung der Welt und die Entwicklung des Menschen in einer unendlichen Zeit vorzustellen haben, wird hier zum Ausdruck gebracht, dass es Gott ist, der Ja zur Welt und zum Menschen sagt. So wird auch deutlich gemacht, dass kein Mensch allein leben soll, sondern sich in einem Gegenüber als Mensch erkennen darf. Ein Mensch allein, das wäre die Einsamkeit, wie eine Wüste, der Tod.

 

Auf diese Weise begegnen wir uns nun in der Welt. Und weil das so ist, darum sind und bleiben wir danach gefragt: „Wo ist dein Bruder..?“ Und die schlechteste Antwort die wir geben könnten hören wir in der Geschichte von Kain und Abel: „Was weiß ich, bin ich vielleicht der Hüter meines Bruders?“ Hinter dieser Antwort verbirgt sich Kains Schuld, er verschleiert den Brudermord durch eine vorgetäuschte Unwissenheit. Übertragen wir die scheinheilige Frage Kains in unser Leben, so wird sie brisant. Denn weil es zu unserer Humanität, zu unserer Menschlichkeit gehört, einander zu begegnen, darum sind wir immer auch füreinander verantwortlich gemacht. Da gibt es keine Ausrede, keine Flucht. Nur, weil sich die Brüder begegnen, messen, vergleichen, kommt es zu diesem Konflikt. Der Unbekannte, Fremde, dem ich nie gegenüber stehe, den ich nicht zur Kenntnis nehme, kann mich gleichgültig lassen. Und nur im Krieg werde ich einen mir unbekannten Menschen töten.

 

Die Verweigerung von Menschlichkeit entfremdet uns dem Mitmenschen und vor allem, was letztendlich viel schwerer wiegt: Gott. Durch die Verweigerung von Mitmenschlichkeit verletzten wir unsere gottgewollte Menschlichkeit und das nennt die Bibel „Sünde“. Daher bleibt jeder Mensch jeden Tag seines Lebens nach seinem Gegenüber, dem Menschenbruder, der -schwester gefragt. Und er wird jeden Tag seine ganz persönliche Antwort auf die Frage nach ihm oder ihr zu geben haben. Alles andere wäre eine Flucht aus der Wirklichkeit heraus.

 

Wer den Text vom Brudermord aus der Bibel hört oder liest, wird dann aber doch ein wenig verstört nach dem Verhalten Gottes, ja, nach seiner Gerechtigkeit fragen. Wie erklärt es sich, dass er sich einem Menschen freundlich, einem anderen zunächst aber gar nicht zuwendet?

Ich denke an den Roman „Jenseits von Eden“ von John Steinbeck, wo er die Geschichte von Kain und Abel in einer spannenden Weise nacherzählt:

 

Caleb erfährt tagaus, tagein, dass sein Vater, ein rechtschaffener, frommer Mensch, den Bruder Aron viel lieber hat. Wie Caleb die Liebe des Vaters für sich gewinnt, ist die Grundfrage seines ganzen Lebens. Da bricht der Erste Weltkrieg aus, und Caleb hört von einem befreundeten Farmer, dass er dem Vater, der infolge einer technischen Spekulation hochverschuldet ist, helfen kann. Zur Unterstützung der Truppen werden Hülsenfrüchte, Bohnen, zu Höchstpreisen aufgekauft, und wer jetzt Bohnen produziert, kann ganz rasch ganz viel Geld machen. Also beschließt Caleb, zur Unterstützung seines Vaters Bohnen zu pflanzen, geht hinaus auf sein Feld, betrachtet die Pflanzen, wie sie wachsen und wachsen. Als dann der Vater Geburtstag hat, bringt Caleb den Ertrag von den Früchten des Feldes: Geld. Nichts davon hat er für sich behalten, die Arbeit eines halben Jahres aufgespart für seinen Vater.

 

Aber sein Bruder Aron hat schon am Morgen, da der Vater Geburtstag hat, erklärt, dass er just an diesem Tag zur Ehre seines Vaters sich verlobt hat. Noch ehe Caleb kommen konnte, hat der Vater erklärt: »Aron, dies ist das schönste Geschenk, das mir gemacht werden konnte.« Das wäre grade noch zu verschmerzen, aber als der Vater dann erstaunt fragt: »Aber Caleb, woher hast du das Geld?«, und er etwas von Höchstpreisen für Bohnen im Zusammenhang mit dem Eintritt der Vereinigten Staaten in den Ersten Weltkrieg hört, ist dieser Mann ein viel zu moralisch und rechtlich denkender - »man verdient nicht sein Geld am Blut unserer Bürger, Caleb; das hättest du wissen müssen« - und wird das Geld nicht anrühren. An diesem Abend beschließt Caleb ... sich freiwillig für den Krieg zu melden, um darin umzukommen. [2]

 

Hier erleben wir mit, was Menschen tagtäglich erleben: Das Gespür, scheinbar grundlos nicht geliebt zu werden und das Bemühen darum, sich die ersehnte Liebe zu verschaffen – wie auch immer. Caleb ist kreativ, er schafft, um dem Vater zu helfen und vor allem zu gefallen, doch dieser hält ihm eine Bußpredigt, der Bruder Aron dagegen tut fast gar nichts und erfährt die ganze Zuwendung seines Vaters. Ich bin immer ein wenig verwirrt, wenn ich von Eltern zu hören bekomme, dass man dieses oder jenes Kind ein wenig mehr liebe, als ein anderes. Und ganz schlimm wird es, wenn Gerechtigkeit unter Kindern in einer Familie dadurch entstehen soll, dass jedes Kind das Gleiche bekommt. Gerecht ist, wenn jedes Kind das von seinen Eltern bekommt, was es jetzt in seiner Lebenssituation braucht. Da kann ein Kind mal mehr, ein anderes Kind dann auch einmal weniger bekommen, auf das Leben verteilt, bekommt jedes Kind das, was es zur Bewältigung seines Lebens benötigt.

 

Schwächere oder vielleicht sogar behinderte Kinder werden so in einer Familie eben sehr viel mehr an Aufmerksamkeit und Zuwendung, ja vielleicht eben auch an finanziellen Aufwendungen erhalten, als die gesunden, starken Geschwister - und das ist richtig so, eben weil sie es brauchen, der Bruder oder die Schwester aber nicht oder jetzt gerade nicht. Das aber stellt die Liebe der Eltern zu allen ihren Kindern nicht in Frage, nur dass sie im Augenblick unterschiedlich verteilt wird.

 

Wer die Geschichte von Kain und Abel genau liest, wird wahrnehmen, dass Gott Abels Opfer „freundlich“, das von Kain aber „gar nicht“ anschaut. Da wird nichts weiter von Gott gesagt. Kain ist verletzt.

Menschlich vielleicht sogar nachvollziehbar, denn er fühlt sich seinem Bruder Abel gegenüber mit seinem ja ebenso gut gemeinten Opfer benachteiligt. Dafür wird er nun von Gott angesprochen, doch die Ermahnung „Herr über die Sünde zu sein“, kann Kain jetzt nicht (mehr) hören, dazu ist er viel zu verletzt. So kommt es zu diesem ersten Brudermord von dem uns berichtet wird.

 

Aber was steht dahinter? Es geht wohl kaum um den frühgeschichtlichen Konflikt zwischen herumziehenden Hirten und sesshaft gewordenen Bauern, sondern um das Wissen darum, jenseits von Eden zu leben und das Paradies also verloren zu haben. Nun muss sich der Mensch, so denkt er, die Zuwendung Gottes durch Opfer und Leistungen verdienen. Gott wird als ein orientalischer Händler gedacht, der seine Zuwendung eben nur ungerecht verteilen kann, Abel mehr, Kain weniger. So kann sich nur der Mensch, der das Paradies verloren hat, Gott vorstellen. Es ist ein Bild von Gott in dem einfach menschliche Charakterzüge auf ihn übertragen werden: So, wie wir sind, so ist auch Gott.

 

Allein das begründet den tiefen, hilfreichen Sinn des Gebotes, dass wir uns kein Bild von Gott machen sollen (2. Mose 20, 4), weil alle Bilder die Gottheit Gottes nicht zu erfassen vermögen.

 

Die Geschichte von Kain und Abel geht weiter, in ihr finden wir uns alle wieder. Die Strafe, die Gott über den Mörder verhängt, macht unmissverständlich deutlich, dass Gott allein Herr des Lebens ist, und kein Mensch das Recht hat, einem anderen Menschen das Leben zu nehmen – und sei er noch so schuldig, ja sogar ein Mörder. So steht Kain dennoch unter dem Schutz des Herrn, auch wenn er aus seiner Heimat wegziehen muss. Er darf leben, wenngleich als ein Gezeichneter. Und auch Eva bekommt noch einmal ein Kind, einen Sohn den sie Schet nennt, was so viel heißt wie „Setzling“ oder „Stellvertreter“. „Eva akzeptiert den Tod Abels nicht. Sie will, dass ein Stellvertreter Abels in der Welt lebt... Und tatsächlich: Mit diesem Schet, dem Stellvertreter Abels, geht die Geschichte, die die Bibel erzählt, weiter. Er ist der Stammvater Abrahams, (Jakobs) Israels, Jesu...“ [3]

 

Daher bleiben wir alle, ausnahmslos, jeden Tag neu danach gefragt: „Wo ist dein Bruder... ?“ und die Antwort wird darüber entscheiden, wie human, wie menschlich wir gelernt haben zu leben. Hoffentlich hört es einmal auf, dass Menschen wie Kain antworten: „Was weiß ich? Bin ich vielleicht der Hüter meines Bruders?“ Ja, wir sind es, denn darin begründet sich unsere gottgewollte Humanität. Amen.

 


 

 

Literatur:

 

1) Barth, K.,   Die Kirchliche Dogmatik, Die Lehre von der Schöpfung, KD III/2, § 45, Zürich, 1948

2) Drewermann, E., Ich lasse dich nicht, Du segnest mich denn,

Predigten zum 1. Buch Mose, München, 1997, S. 118

3) Butting, K., Zeitschrift für Gottesdienst & Predigt (ZGP), Gütersloh, 2006, S. 43

 

 

Lindemann, W., Deutsches Pfarrerblatt, 13. Sonntag nach Trintatis, Heft 8/2000, http://www.deutsches-pfarrerblatt.de

 

 

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